Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
mit ›Mylord‹ anreden, obwohl Sie es besser wissen.«
Ihr Herz klopfte vor Aufregung, ihn über das Geheimnis sprechen zu hören, das sonst zwischen ihnen unerwähnt blieb. Sie antwortete: »Sie nennen mich Miss Keene.«
Er dachte darüber nach.
»Vielleicht ein Zeichen von Respekt?«
Sie nickte und ein warmes Gefühl durchflutete sie.
»Wie seltsam das ist«, überlegte er laut. »Einfach weiterzumachen … so zu tun, als wäre alles wie vorher.« Er holte tief Luft und trat zur Tür. Erneut zögerte er. »Übrigens fand ich persönlich, dass Sie gut gespielt haben. Es tut mir leid, dass Sie so unhöflich weggeschickt wurden.«
Sie spürte, wie ihre Ohren bei der Erinnerung daran heiß wurden. »Machen Sie sich keine Gedanken. Bestimmt hatte Miss Tugwell recht.«
»Nun dann, gute Nacht, Miss Keene. Und frohe Weihnachten!«
Ein paar Minuten später schloss Olivia die Tür des Schlafzimmers leise hinter sich und fragte sich, wie lange Audrey wohl unten bei den Gästen bleiben würde. Sie erwartete, dass das dunkle Kinderzimmer leer sein würde und erschrak beim Anblick einer schattenhaften Gestalt. War Lord Bradley doch nicht zu seinen Gästen zurückgekehrt, wie sie es angenommen hatte?
Aber es war Felix’ Stimme, die durch die Dunkelheit drang. »Wissen Sie was, Livie, als ich vor ein paar Minuten hier hochgekommen bin, hätte ich schwören können, dass ich zwei Stimmen in einem geheimen Tête-à-tête hörte. Ich habe im Schatten gewartet, um zu sehen, wer nach meinem Cousin aus dem Zimmer kommen würde, und ich bin verblüfft, dass Sie es sind.«
Mit pochendem Herzen zuckte Olivia die Achseln und schüttelte den Kopf.
»Es war nicht Ihre Stimme?«
Olivia starrte ihn an, sämtliche Nerven angespannt.
Felix trat näher. »Sie behaupten weiterhin, stumm zu sein, hm?«
Olivia nickte.
Seine Stimme nahm einen geschmeidigen Ton an. »Wenn ich also, sagen wir einmal, Ihre Hände nähme« – er drückte ihre Hände – »könnten Sie mich nicht bitten, Sie loszulassen?«
Sie blieb reglos stehen und ihr ganzer Körper verkrampfte sich.
»Und wenn ich Sie umarmen wollte« – er zog sie zu sich her und ein erstaunlich kräftiger Arm schlang sich um ihre Taille – »könnten Sie es mir nicht verweigern?«
Sie versuchte sich loszureißen, doch sie war machtlos gegen ihn.
»Und wenn ich Sie küssen würde … könnten Sie nicht protestieren?« Er drückte sie mit dem Rücken gegen die Wand. Seine Stimme war jetzt nur noch ein heiseres Flüstern. »Wehre dich nicht, süße Livie. Bitte. Es ist schließlich Weihnachten.« Er beugte sich vor und zielte auf ihren Mund. Sie drehte das Gesicht zur Seite und er drückte einen festen Kuss an ihren Hals. Olivia wand sich, und schließlich gelang es ihr, einen Arm aus seiner Umklammerung zu befreien. Sie versetzte ihm einen Faustschlag aufs Auge.
Felix brüllte auf, fluchte und ließ sie los, um sein Gesicht mit den Händen zu bedecken. »Livie!«, schrie er fassungslos.
Sie verließ bereits mit eiligen Schritten den Raum. Seine Stimme holte sie ein und nahm einen bittenden Ton an. »Das hätten Sie nicht tun müssen. Ich wollte Sie nur necken. Machen Sie nur kein Aufhebens darum!«
Fürchtete er, sie würde auf direktem Weg zu seinem Cousin eilen und sein Verhalten melden? Vielleicht sollte sie das tun. Sie fragte sich einen Moment lang, welcher der beiden Männer den anderen mehr fürchtete. Aber wer würde ihr glauben, wenn ihr Wort gegen das von Felix stand?
Sie würde Lord Bradleys Geheimnis mit ins Grab nehmen, aber wenn Felix Bradley es noch einmal wagen sollte, sie anzufassen, würde sie nicht länger schweigen.
15
Wir hatten zwölf Tänze und fünf, sechs oder sieben Paare. Dann spielten wir eine Runde Jag den Schuh und beendeten den Tag mit Sandwiches und Törtchen … Ich darf nicht unerwähnt lassen, dass die Kleinen sich herausputzten wie üblich und Weihnachtslieder sangen.
Fanny Austen Knight, Christmas Eve, 1808
Am Weihnachtsmorgen stand Olivia auf und nahm ein gemütliches Frühstück in ihrem Zimmer zu sich, während Becky die Kinder allein badete und anzog, als Entschuldigung dafür, dass sie am Abend zuvor einfach verschwunden war. Olivia fragte sich, wo ihre Mutter wohl den Tag verbrachte, und hob ihre Teetasse in einem stillen Weihnachtsgruß.
Wieder betrachtete sie das dunkelblaue Kleid, das an ihrer Tür hing. Sie würde es tragen, beschloss sie, und stand auf, um sich anzuziehen. Das Kleid passte ihr gut, obwohl sie
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