Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
ging, um mit Dienern zu flirten, denen sie sonst nicht begegnen würde. Dieses Mädchen war wirklich wild auf Männer.
Unter ihnen, in der zweiten Kirchenbank von vorne, sah Olivia Lord Bradley zwischen Audrey und Andrew stehen. Neben Audrey stand Judith in schwarzem Mantel und schwarzem Hut mit einem Halbschleier aus hauchdünner silberner Spitze. Alexander war zu jung, um sich in der Kirche ruhig zu verhalten, man hatte ihn zu Hause bei Miss Peale gelassen. Olivia fragte sich, wie es Andrew gelingen würde, so lange still zu bleiben. Er sah völlig anders aus als sonst, wie er dort in seinem Sonntagsmantel herumzappelte, die braunen Haare glatt gekämmt. Audrey dagegen stand ruhig und anmutig da mit ihrer Haube, dem Kleid und den Handschuhen. Lord Bradley hielt sie an der Hand. Sie wirkten wie eine Familie – Ehemann, Frau und Kinder. Würden sie das eines Tages tatsächlich werden, wenn Judiths Trauerzeit zu Ende war?
Mr Tugwell hielt eine erstaunlich kurze Predigt. Er sagte, nur der Gedanke an das prächtige Fest, das ihn erwartete, könne seine Zunge an einem so herrlichen Tag zum Schweigen bringen. Er erinnerte die Gemeinde daran, dass seine gute Schwester und er wieder den jährlichen Tag des offenen Hauses abhielten und dass alle eingeladen seien, zu einem Essen vom Büffet vorbeizuschauen.
Am Ende des Gottesdienstes stand Olivia auf und warf erneut einen Blick auf Lord Bradley und die Howes hinunter, die sich erhoben, ihre Sachen sammelten und ihren Nachbarn zulächelten. Lord Bradley schüttelte dem Mann hinter ihm über die Kirchenbank hinweg die Hand. Als sich der Mann umdrehte, zuckte Olivia zusammen. Das Profil des Mannes kam ihr bekannt vor. Sie war ihm schon einmal begegnet. Der Mann schaute zur Galerie hinauf und Olivia wandte schnell den Kopf und hoffte, dass die Haube ihr Gesicht verdecken würde. Sie wollte nicht erkannt werden – sie durfte nicht erkannt werden. Wer war der Mann? Sie wollte noch einmal einen Blick auf ihn werfen, traute es sich jedoch nicht. War es jemand aus ihrer Gegend? Jemand aus Withington, der hier Verwandte oder Freunde besuchte? Es war jemand, der Lord Bradley kannte … Olivias Herz pochte heftig und sie hoffte, der Mann würde ihnen nicht nach Brightwell Court folgen, um dort das Weihnachtsessen mit der Familie einzunehmen.
Olivia gab vor, etwas in ihrem Pompadour zu suchen, und winkte Doris, vorauszugehen. So gelang es ihr, die Galerie als Letzte zu verlassen. Wie sie gehofft hatte, war der vertraut wirkende Herr – wie fast alle anderen – bereits weg.
An der Tür tauschte Mr Tugwell gute Wünsche oder Weihnachtsgrüße mit den letzten Mitgliedern seiner Gemeinde aus, während sie nach und nach ins Freie traten. Miss Tugwell stand dicht neben ihm und verteilte kleine Beutel, die mit Stoffstreifen zugebunden waren. Wie großzügig. Sie bemerkte, dass Miss Tugwell jede Person musterte, während sie das Geschenk überreichte. Als sie Olivias neues Kleid in Augenschein nahm, flüsterte sie: »Sie brauchen keinen Weizen, nehme ich an, Miss Keene?«
Olivia dachte an Mr Croome, deshalb nickte sie und streckte ihre Hand aus.
Augusta Tugwell beachtete sie nicht. »Was für ein törichter Gedanke in diesen Zeiten. Wenn ich bedenke, was Weizen kostet!«
Mr Tugwell schaute zu ihnen herüber. Sein Blick wanderte von Olivias ausgestreckter Hand zu dem Beutel, den seine Schwester umklammert hielt. »Schwester, Miss Keene wartet auf ihr Geschenk.« Er lächelte Olivia an, während Augusta Tugwell nur die Nase rümpfte und ihr den Beutel überließ.
Edward kam es töricht vor, wie nervös er darauf wartete, dass seine jungen Verwandten ihre Geschenke öffneten. Er hoffte auf jeden Fall, Miss Keene hätte recht und Audrey würde das Puppenhaus gefallen, auch wenn sie kein kleines Mädchen mehr war.
»Erwartet nicht zu viel«, sagte er. »Das sind nur Sachen, die ich in der Schreinerwerkstatt gebastelt habe. Nichts Neues aus den Londoner Läden, fürchte ich.«
Miss Harrington saß in perfekter Haltung im Sessel neben seinem. Sie wirkte erfrischt und elegant in ihrem primelgelben Kleid mit dem weißen, in den Ausschnitt gesteckten Tuch. Felix hatte es sich entspannt auf dem Sofa bequem gemacht. Sein Blick war auf jeden Fall klarer und er wirkte gepflegter als am Morgen. Judith hatte sich ans andere Ende des Sofas gesetzt, sie hatte den kleinen Alexander vor sich. Er konnte schon allein sitzen, aber so hatte er seine Mama in der Nähe, damit sie ihn auffangen konnte,
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