Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
großen Augen an. »Ich habe diese Miniaturlandschaft selbst gemalt und hatte keine Ahnung, wofür sie war!«
Nachdem sie einige Minuten lang weitere Details bewundert hatte, stellte sich Audrey vor Edward und knickste anmutig. »Ich danke dir, Cousin Edward. Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«
Judith wirkte leicht gekränkt, öffnete die rosafarbenen Lippen und schloss sie wieder.
Edward hatte nicht die Absicht gehabt, jemand anderen zu übertrumpfen. Er hatte diesen Kindern, den Sprösslingen seines Freundes, der diese Welt verlassen hatte, nur eine Freude machen wollen. Verdienten sie nicht eine besondere Freude an diesem Tag?
Er verbeugte sich auf vornehmste Weise vor Audrey, nahm dann ihre Hand und drückte sie. »Sehr gern geschehen, liebe Audrey.«
Als er den Kopf wieder hob, hatte sich Judiths Miene in nachdenkliche Anerkennung verwandelt. Miss Harrington sah zwischen ihm und Judith hin und her und wirkte alles andere als erfreut.
Als die Kinder anfingen, mit dem Puppenhaus zu spielen, wandte sich Felix an Edward und fragte: »Erinnerst du dich noch an das Floß, das du einmal gebaut hast, Edward?«
»Oh nein, nicht schon wieder diese alte Geschichte.«
Ein schadenfrohes Funkeln leuchtete in Felix' grünen Augen auf. »Wissen Sie, Miss Harrington, dieser großartige Noah hier hat uns ein feines Floß gebaut, als wir Kinder waren. Groß genug, damit wir beide darauf Platz hatten, und dieser Terrier – wie hieß er noch?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Auf jeden Fall haben wir das Floß in der Nähe der Brücke von Brightwell ins Wasser gelassen, und die Strömung trug uns schnell davon. Erst als wir die Kirche passierten, dort wo der Fluss breiter wird, wurde Edward bewusst, dass er weder an ein Ruder noch an ein Paddel gedacht hatte!«
Verlegen lachte Edward in sich hinein und schüttelte den Kopf.
»Aber das Floß war seetauglich, das gebe ich zu«, fuhr Felix fort. »Es trug uns die ganze Strecke bis zur Mühle in Arlington und hätte uns noch weiter getragen, wenn Edward nicht einen tief liegenden Ast gepackt und uns in den Mühlengraben gezogen hätte.« Er beäugte seinen Cousin. »Behaupte nur nicht, du wüsstest das nicht mehr.«
»Ich erinnere mich, dass der Müller nicht sonderlich erfreut war. Das weiß ich noch.«
»Was ist wohl aus dem Floß geworden, frage ich mich«, sagte Felix. »Ich hoffe, Andrew stolpert nicht darüber, oder wir sehen diesen wilden Piraten eines Tages nie wieder.«
»Keine Sorge. Ich bin sicher, dass das alte Ding dasselbe Schicksal erlitten hat wie die meisten anderen Sachen, die ich damals gebaut habe. Mutter hat sie still und leise beiseite geschafft, als ich in Oxford war.«
»Das kann doch nicht wahr sein! So ein Kunstwerk! Nach diesem Ausflug bin ich allerdings ziemlich sicher, dass du keine Karriere im Schiffsbau machen wirst.«
»Das würde ich auch nicht wollen.«
Felix lehnte sich zurück. »Du brauchst auch gar keinen Beruf. Nur ich bin derjenige, der einen Weg finden muss, um sich eine Existenz zu sichern.«
»Das sagen Sie so, als müssten Sie die Erde bearbeiten, um Ihr Brot zu verdienen, oder etwas in der Art«, sagte Miss Harrington freundlich. »Mit einem Abschluss vom Balliol College wird es bestimmt nicht dazu kommen.«
»Nein«, antwortete er. »Ich kann mir Felix Bradley, der als Freisasse das Land bewirtschaftet, nicht vorstellen.«
»Ich auch nicht«, stimmte Judith zu.
»Womit wollen Sie sich beschäftigen?«, fragte Miss Harrington. »Haben Sie sich schon entschieden?«
»Nein, noch nicht. Ich habe kein Interesse an der Kirche. Ich verabscheue den Gedanken, in einem Krieg zu kämpfen. Ich hab keinen Kopf für Juristisches …«
»Komm schon«, sagte Edward. »Du bist genauso schlau wie viele andere und hast in absehbarer Zeit deinen Abschluss. Es muss doch etwas geben, das dich interessiert.«
»Ich interessiere mich für sehr viele Dinge. Aber nichts davon bringt ein großes Einkommen. Ich vermute, ich habe mein Herz daran gehängt, ein Gentleman zu sein, genau wie mein Vater und schon sein Vater vor ihm.«
»Und warum sollte das nicht möglich sein?«, fragte Judith unbekümmert.
»Weil, wie du sehr genau weißt, Jude, Vater uns kaum mehr als Schulden hinterlassen hat. Unser Onkel ist sehr großzügig, aber ich kann nicht von ihm erwarten, dass er auch für meine Frau und Kinder sorgt.«
»Deine Frau und Kinder?« Erschrocken richtete Judith sich auf. »Du liebe Güte, Felix, bist du verlobt?
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