Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
schlanker als Mrs Howe war. Sie nahm an, dass die Frau vor ihrer Schwangerschaft mit Alexander dünner gewesen war. Um dem Kleid eine persönliche Note zu geben, legte Olivia ihre neue Spitzenpelerine – ein Weihnachtsgeschenk von Mrs Moore – als Kragen an.
Als sie ins Kinderzimmer trat, mühte sich Becky gerade mit Audreys Haar ab, also bürstete und frisierte Olivia es selbst. Audrey trug einen neuen pelzgefütterten Mantel über einem bedruckten Musselinkleid. Andrew hatte seine lange Sonntagshose, eine Weste und eine neue grüne Jacke an.
Olivia begleitete die Kinder ins Frühstückszimmer hinunter, wo sie sich vor dem Kirchgang zu den Erwachsenen gesellen sollten.
Nach der Rangelei am Vorabend war Olivia erleichtert, dass Felix offensichtlich fehlte. Auch Miss Harrington war nicht anwesend, obwohl sie mehrere Tage in Brightwell Court bleiben sollte.
Auf der Anrichte stand eine Weihnachtsschachtel für jedes Kind. Als Audrey ihre öffnete, wurden ihre Augen beinahe so groß wie die Münzen darin. »Zwei Guineas!«
»Wir sind reich!«, rief Andrew und hielt seine Münzen in die Höhe.
»Alexander hat seine Schachtel auch bekommen«, erklärte Judith. »Aber da er versucht hat, die Münzen zu essen, werde ich sie für ihn aufheben, bis er älter ist.«
Lord Bradley legte beiden Kindern eine Hand auf den Kopf und fügte mit warmer Stimme hinzu: »Das Geld ist von Lord und Lady Brightwell. Sie haben es extra für euch bereitgelegt, bevor sie abgereist sind.«
»Ach … Weihnachten in Rom«, seufzte Judith. Dann drehte sie sich zu Olivia um, die an der Tür wartete, die Mäntel der Kinder im Arm. Sie musterte ihre Gestalt von Kopf bis Fuß. »Sie sehen heute sehr gut aus, Miss Keene«, sagte sie.
Verlegen lächelte Olivia und machte einen Knicks.
Auch Lord Bradley betrachtete sie eingehend, doch seine Miene war undurchdringlich. Olivia war erleichtert, dass Mrs Howe ihrem Cousin und dem anwesenden Osborn nicht verkündete, dass Olivia ein abgelegtes Kleid von ihr trug.
Felix stolperte mit zerzaustem Haar und einer Andeutung von rötlichen Stoppeln am Kinn ins Zimmer. Dem jungen Mann hatte der Alkoholgenuss am Vorabend nicht gut getan. Olivia kannte die Anzeichen – die grünlich-blasse Gesichtsfarbe, den hohläugigen Blick. Sie bemerkte auch sein dunkel angelaufenes Augenlid, was sie ebenfalls aufs Trinken zurückführen konnte, indirekt zumindest.
Judith Howe begrüßte ihren Bruder fröhlich. »Guten Morgen, Felix. Mrs Moore hat Früchtekuchen gemacht, dein Lieblingsessen.«
»Ich will nichts weiter als Kaffee.«
»Was ist mit deinem Auge passiert?«, wollte Lord Bradley wissen.
»Ach«, Felix warf Olivia einen unmerklichen Seitenblick zu, »ich … äh … ich bin im Dunklen gegen ein unerwartetes Hindernis gestoßen.«
Er goss sich mit nicht gerade ruhigen Händen eine Tasse Kaffee ein. »Nach Kaffee, ein paar zusätzlichen Stunden Schlaf, einem Bad und einer Rasur werde ich wieder ganz der Alte sein. Ich werde es leider nicht schaffen, mit in die Kirche zu kommen, fürchte ich.« Er rührte den Zucker in seinem Kaffee um. »Ich würde an eurer Stelle auch nicht auf Miss Harrington warten. Ihrem Vater zufolge betreten ihre kleinen Füße an den seltensten Tagen den Boden vor zwölf Uhr.«
Als das Frühstück beendet war, fuhren Mrs Howe, Lord Bradley und die Kinder mit der Kutsche die kurze Entfernung die Ausfahrt hoch und an der hohen Mauer entlang, die Brightwell Court von St. Mary’s trennte. Froh, dass sie den Gottesdienst besuchen durfte, ging Olivia zu Fuß neben Doris her, zusammen mit einer Handvoll von Dienern, deren Pflichten für diese Zeit ruhen konnten.
Von der Eingangshalle der Kirche aus folgte Olivia Dory nach oben zur Galerie, um ihren Platz bei den anderen Dienern einzunehmen. Sie hatte noch nie auf einer Galerie gesessen. Zu Hause saßen sie und ihre Mutter immer im Hauptraum der Kapelle, zusammen mit der kleinen Gruppe der Kirchenmitglieder, die sonntags den Gottesdienst besuchten. Ihr Vater gehörte nicht dazu.
Doris klopfte ihr aufs Knie und sie ließen sich für den Gottesdienst nieder. Auf der Galerie herrschte ein Gefühl der Kameradschaft. Die Diener aus verschiedenen Häusern, die sich nur gelegentlich am Sonntag und sonst kaum einmal sahen, begrüßten sich gegenseitig mit stillem Lächeln. Unter manchen Hausmädchen und Stallknechten wurde auch gezwinkert, und es gab da und dort freundliche Stöße in die Rippen. Olivia merkte schnell, dass Doris nur zur Kirche
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