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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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würde eine ziemliche Veränderung für Sie bedeuten. Keine Freundschaften mehr mit der Dienerschaft, keinen Tee und Gebäck mehr in der Küche mit Mrs Moore …«
    »Aber warum nicht?«
    »Meine Liebe, wissen Sie nichts von der misslichen Lage einer Gouvernante?«
    »Nein.« Ihre Mutter hatte ihr nichts von dieser Zeit erzählt.
    »Eine Gouvernante gehört weder zur Dienerschaft noch zur Familie. Sie darf mit beiden Seiten keinen gesellschaftlichen Umgang pflegen. Sie ist begrenzt auf die Gemeinschaft mit ihren Schülern. Zu den Eltern ihrer Schüler hat sie nur kurzen Kontakt, soweit es nötig ist, um von Problemen zu berichten, die sich ergeben.«
    »Ich maße mir nicht an, Teil der Familie zu sein, Mrs Hinkley.« Die Ironie dieser Aussage hallte in ihren Ohren. »Aber wollen Sie mir wirklich sagen, dass meine liebe Freundin Mrs Moore sich weigern wird, mit mir zu sprechen, falls ich dieses Angebot annehme? Und Sie ebenfalls?«
    Mrs Hinkley rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Es wäre nicht so, dass wir uns strikt weigern würden oder absichtlich unhöflich wären, aber eine sehr reale Mauer würde zwischen uns entstehen. – Ich sage das nicht, um Sie zu entmutigen, damit Sie den Posten ablehnen, denn es besteht kein Zweifel, dass Sie den Kindern viel mehr nützen, als es Miss Dowdle jemals getan hat. Und ich weiß, dass Sie den höheren Lohn verdienen … aber ich möchte auch nicht, dass Sie die Stelle annehmen, ohne eine Ahnung zu haben, was das für Sie bedeutet. Sie werden für uns verloren sein, meine Liebe. Und ich für meinen Teil werde das sehr bedauern.«
    Olivia griff nach Mrs Hinkleys Hand und drückte sie. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich vorzuwarnen. Aber es war immer mein Wunsch zu unterrichten. Ich wünschte, was Sie sagen, wäre nicht wahr. Denn ich werde sehr einsam ohne Sie alle sein.«
    »Ja, meine Liebe. Ich fürchte, das werden Sie ganz bestimmt sein.« Einen Moment lang betrachtete die Haushälterin sie mit einem beinahe kummervollen Blick. Dann richtete sie sich so abrupt auf, als hätte sie in die Hände geklatscht. »Nun gut, wenn das Ihr Herzenswunsch ist, muss nur noch eines erledigt werden.«
    Mrs Hinkley erhob sich und holte Federkiel, Tinte und Papier aus ihrem kleinen Schreibtisch. »Mrs Howe würde gern an die Schule schreiben, in der Sie Assistentin waren, und um ein Leumundszeugnis bitten.«
    Olivias Herz begann dumpf gegen ihre Brust zu pochen. Ihre kurze Freude verließ sie. Sie hätte das vorhersehen sollen. Ohne Zeugnis als niedriges zweites Kindermädchen angestellt zu werden, ließ sich noch vertreten, doch wenn es um den Posten einer Gouvernante ging, sah die Sache anders aus. Schließlich würde sie für die Erziehung zweier Kinder verantwortlich sein.
    »Wenn Sie mir also einfach nur die Adresse aufschreiben, dann gebe ich sie an Mrs Howe weiter.«
    Sie reichte Olivia die Feder und das Papier.
    Das Blut rauschte in Olivias Ohren. Sollte sie es wagen? Sie zweifelte nicht daran, dass Miss Cresswell eine faire und lobende Beurteilung schreiben würde – zumindest hätte sie vor diesem unglücklichen Vorfall fest damit gerechnet. Hatte Miss Cresswell erfahren, was sie getan hatte? Wenn sie diesen Brief erhielt, würde Miss Cresswell wissen, wo Olivia lebte. Würde sie sich verpflichtet fühlen, diese Information an ihren Vater weiterzugeben, sofern er noch lebte – oder an den Wachtmeister, falls ihr Vater tot wäre?
    Ihre Gedanken gingen wieder zu dem stillen Schulzimmer im obersten Stock von Brightwell Court. Es lag dort wie ein braches Feld und wartete darauf, wieder zu nützlichem Leben erweckt zu werden. Innerlich aufs Höchste angespannt, hob Olivia den Federkiel und tauchte ihn in die Tinte. Mit bebenden Fingern schrieb sie den Namen und die Anschrift. Was jetzt nur eine Kombination geschwungener Buchstaben aus Tinte war, konnte eines Tages zur Schlinge um ihren Hals werden.

23
     
Mein Blick ging über die bedruckte Seite hin.
Ich war zu jung, es gab mir keinen Sinn.
Wer lehrte mich verstehen all das Unbekannte?
Sie war es: Meine Gouvernante.
William Upton, My Governess, 1812
     
    Die Aromen wurden intensiver, als Olivia die Treppe zur Küche hinunterstieg. Sie waren würzig, süß und herb, wie der Herbst, der schon so lange zurückzuliegen schien.
    »Was duftet hier so köstlich?«, fragte sie Mrs Moore, die damit beschäftigt war, Apfelschnitze in Einmachgläser zu füllen.
    »Hallo, Olivia. Ich mache unsere letzten Äpfel in Ingwersirup ein.

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