Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Meine Liebe, ich habe die Neuigkeit gerade eben gehört und muss Ihnen gratulieren.«
»Es ist noch nicht offiziell, Mrs Moore. Wir warten noch auf ein Leumundszeugnis von meiner früheren Lehrerin.«
»Und sie wird nichts als lauter Lobeshymnen schreiben, davon bin ich überzeugt.«
»Ich hoffe, Sie haben recht.«
»Natürlich habe ich recht. Sie sind so eine kluge und freundliche junge Dame. In Ihrer kurzen Vergangenheit wird es nichts Finsteres geben.«
»Das würde ich nicht so sagen.«
Mrs Moore betrachtete sie eindringlich. »Dann haben Sie und ich etwas gemeinsam, meine Liebe.«
Olivia hätte sie gern gefragt, was sie meinte, aber die Köchin fing wieder an, geschäftig hin und her zu eilen, wie es ihre Art war. Sie holte Teetassen und füllte einen Teller mit Zitronenkeksen. Während dieser Arbeit zeigte sie eine ausdruckslose Miene, die nicht dazu einlud, das Thema zu vertiefen.
»Wir setzen uns hin und trinken einen Tee zum Gedächtnis, ja? Als letzten Abgesang.« Mrs Moore setzte sich neben sie auf einen Hocker, den sie zum Arbeitstisch zog. »Was mir persönlich sehr leid tut.«
Olivia konnte es kaum glauben, dass sie in Zukunft in Mrs Moores Küche nicht mehr willkommen sein würde. Tapfer trank sie ihren Tee und probierte einen Keks. »Köstlich!«
Mrs Moores Lächeln schien ihre Augen nicht zu erreichen.
»Darf ich fragen«, erkundigte sich Olivia vorsichtig, »wie lange es her ist, seit Ihre Schwester starb?«
Die Köchin nickte, als habe sie die Frage erwartet und als sei sie in Gedanken schon bei diesem Thema gewesen. »Das muss jetzt achtundzwanzig Jahre her sein. Alice war gerade vierzehn.«
»Alice? Ist sie … ihre Tochter?«
Mrs Moore nickte. »Sie hatten nur dieses eine Kind. Alice war so ein liebes Mädchen. Sie war freundlicher als sonst ein Mensch. Sie nannte mich Tante Nellie, obwohl mich alle anderen einfach nur Nell nennen. Ich kann ihre süße Stimme immer noch hören und ihre Arme um meinen Hals spüren …« Mrs Moores Augen glänzten tränenfeucht und sie suchte in ihrer Schürzentasche nach einem Taschentuch. »Avery war damals ein völlig anderer Mensch, das kann ich Ihnen sagen. Maggie versorgte ihn mit Essen und Alice machte sein Herz weich.« Sie lächelte zaghaft unter Tränen.
Olivia spürte, wie sich ihre eigenen Augen mit Tränen füllten. Sie fürchtete, die Antwort bereits zu kennen, als sie ruhig fragte: »Was ist aus Alice geworden?«
Mrs Moore schniefte und blickte auf ihre Hände herab. »Man sagt, sie wäre mit einem jungen Mann davongelaufen, als sie achtzehn war, aber …« Sie schaute kurz zu Olivia und wandte dann den Blick ab. »Aber unter uns gesagt«, flüsterte sie, »weiß ich es besser.«
»Haben Sie nie mehr von ihr gehört?«
Mrs Moore schüttelte den Kopf und starrte blind auf einen Punkt über den hohen Fenstern. »Sie ist jetzt bei Maggie, das weiß ich. Ich nehme an, das ist ein kleiner Trost.«
»Der arme Mr Croome«, hauchte Olivia.
»Ja, der arme Mr Croome.« Mrs Moore seufzte, dann richtete sie sich auf. »Jetzt aber genug davon. Was für ein trauriges letztes Schwätzchen das ist! Aber ich werde Sie vermissen, mein Mädchen, das schwöre ich.«
»Und ich Sie.«
Olivia drückte ihrer Freundin die Hand – zu fest, merkte sie, als die Köchin das Gesicht verzog, aber sie konnte nicht anders. Sie wollte gern, dass dieser letzte Eindruck blieb.
Als sie die Küche verließ, lief Olivia vor dem Aufenthaltsraum der Dienerschaft Johnny Ross über den Weg. Seine breiten Schultern füllten den schmalen Gang fast vollständig aus, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als vor ihm anzuhalten.
Er schob sich die Hände in die Taschen und schob das Kinn vor. »Gouvernante, was? Ich nehme an, das heißt, dass Sie mit jemand wie mir nichts mehr anfangen können. Ich wette, Sie glauben jetzt, Sie würden über mir stehen.«
»Nein, Mr Ross, ich –«
»Ach, Mr Ross bin ich jetzt für Sie? Und ich muss Sie wohl Miss Keene nennen und darf Sie nie mehr küssen.«
Olivia schaute sich um und hoffte, dass niemand in der Nähe war. Sie flüsterte kurz angebunden: »Was Sie ohnehin nicht hätten tun dürfen.«
»Das haben Sie nie gesagt.«
»Ich konnte damals nicht sprechen, wie Sie vielleicht noch wissen.«
Er kräuselte die Lippe. »Wie arrogant Sie schon geworden sind! Ich hab den anderen gesagt, dass es genau so kommen würde.«
Sie starrte ihn an. »Na, vielen Dank auch. Ich ziehe es vor, dass Sie überhaupt nicht über mich reden.
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