Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
Vom Netzwerk:
Was habe ich getan, um solche Gemeinheit zu verdienen?«
    »Ich soll gemein sein? Sie haben mich doch schlecht behandelt!«
    Olivia runzelte die Stirn. »Inwiefern hab ich das je getan?«
    »Sie haben mir den Laufpass gegeben. Sie sind sich jetzt zu gut für mich.«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte Johnny nie als ernsthaften Bewunderer betrachtet. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich ihm immer etwas überlegen gefühlt, aber das konnte sie jetzt nicht zugeben. Er würde nie glauben, dass etwas anderes als ihr Aufstieg zum Bruch zwischen ihnen geführt hätte.
    Doris huschte durch den Gang auf die beiden zu, den Wäschekorb auf die Hüfte gestützt. Sie sagte in scharfem Ton: »Lass sie in Ruhe, Johnny. Ich nehme dich, wenn sie dich nicht haben will.«
    Im Vorbeieilen zwinkerte Doris Olivia zu.

     
    Keine ganze Woche, nachdem Olivia Miss Cresswells Anschrift weitergegeben hatte, eilte Judith Howe im Gang an ihr vorbei, einen Brief in der Hand. »Eine glühende Empfehlung, Miss Keene.« Sie wedelte mit dem Brief. »Genau, wie ich es erwartet habe. Ich kann Menschen instinktiv gut einschätzen.« Mrs Howe steuerte auf die Treppe zu, um die Neuigkeit an Lord Bradley weiterzugeben, wie Olivia vermutete.
    Olivia war erleichtert. Gleichzeitig fragte sie sich, was in Miss Cresswells Brief stand, und wünschte, sie dürfte ihn lesen. Enthielt er irgendwelche Hinweise, was mit ihrer Familie passiert war?
    Sie beschloss, selbst an Miss Cresswell zu schreiben und sich danach zu erkundigen. Jetzt, da sie ihren Aufenthaltsort preisgegeben hatte, konnte das wohl kaum schaden. Sie fragte sich, ob sie immer noch verpflichtet war, Lord Bradley um Erlaubnis zu bitten, wenn sie einen Brief schreiben wollte, obwohl ihre Probezeit vorbei war.
    Während sie auf das Leumundszeugnis gewartet hatte, hatte Olivia sich so gut wie möglich auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. Im Schulzimmer gab es etliche Bücher, die zum Unterrichten gedacht waren, sowie Ratgeber für Gouvernanten, wie zum Beispiel: Anleitung für Gouvernanten und Ein Plan zur Durchführung der weiblichen Bildung . Die Ratschläge, die sie in diesen Büchern las, waren oft widersprüchlich. Sollte eine Gouvernante sich darauf konzentrieren, ihre Schülerin zu einer Dame mit vollendeten Umgangsformen und zahlreichen Fertigkeiten zu machen, oder war es wichtiger, umfassendes Wissen zu vermitteln?
    Olivia beschäftigte sich nicht lang mit diesem Problem, sondern entwickelte bald einen eigenen Plan, wie sie Andrew helfen konnte, seine Lesefähigkeit zu verbessern, und wie sie die Kinder in Literatur, Dichtkunst, Französisch, Italienisch (was immerhin die Sprache der Musik war), Erdkunde, Naturwissenschaften, Religion und natürlich Mathematik einführen konnte. Den Ratgebern nach musste sie Audrey auch noch Nähen, Sticken, Tanzen und Zeichnen beibringen und die Klavierstunden fortsetzen. Später würde man einen Musiklehrer und auch einen Tanzlehrer hinzuziehen müssen.
    Die Liste schien endlos. Aber statt beim Gedanken an das vor ihr liegende, überwältigende Arbeitspensum mutlos zu werden, fühlte sich Olivia lebendiger und entschlossener als je zuvor. Sie konnte es kaum glauben, dass sie in genau dem Raum, in dem ihre Mutter einmal unterrichtet hatte, nun selbst Schüler unterweisen würde. Sie hoffte, sie würde als Lehrerin mindestens halb so gut sein.

     
    An diesem ersten Morgen im Schulzimmer war Olivia gleichzeitig gespannt und nervös. Nervöser, als sie es normalerweise gewesen wäre, denn Judith Howe leistete ihnen Gesellschaft. Sie erklärte, sie wolle sehen, wie Olivia und die Kinder miteinander auskämen. Audrey saß aufmerksam und erwartungsvoll an ihrem Tisch, die Hände vor sich gefaltet, den Rücken gerade. Andrew dagegen hing zusammengesunken neben ihr. Er betrachtete Olivia misstrauisch, als könne er dieses neue Geschöpf, das seinem zweiten Kindermädchen sehr ähnlich sah, aber jetzt so übereifrig vor ihnen stand und die Unterrichtsregeln aufzählte, nicht recht einordnen.
    Mrs Howe flüsterte laut: »Setz dich aufrecht hin, Andrew.«
    Olivia fuhr mit den Regeln fort, genau wie es Miss Cresswell zu Beginn jedes Schuljahrs getan hatte.
    Judith Howe unterbrach sie. »Ich erlaube keine körperlichen Strafen, Miss Keene – nur damit wir uns recht verstehen. Meine eigene Gouvernante war fies und ich werde nicht zulassen, dass Dominicks Kinder solchen Maßnahmen ausgesetzt sind.«
    Olivia nickte. Sie konnte ein hartes Vorgehen nicht gutheißen, aber ein

Weitere Kostenlose Bücher