Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
gewisses Maß an Disziplin würde erforderlich sein, und sie fürchtete, dass Mrs Howe bereits viel dazu beigetragen hatte, ihre Autorität zu untergraben.
Nachdem die Regeln erledigt waren, beschloss Olivia, mit dem Fach zu beginnen, das ihr am liebsten war. Rechnen. Sie schrieb ein paar einfache Additionen auf Andrews Schiefertafel und einige etwas schwerere Aufgaben auf Audreys.
Audrey gelang es schnell, die Ergebnisse auszurechnen, doch Andrew saß reglos da, die Kreide in der Hand.
Judith durchquerte das Zimmer und stellte sich neben ihn. »Andrew, das ist doch so einfach. Du gibst dir nicht einmal Mühe.«
»Doch, Mama. Aber du machst mich nervös. Ich wünschte, du würdest mir nicht zuschauen.«
Olivia teilte diesen Wunsch.
Andrew runzelte die Stirn und schob die Zunge zwischen die Zähne, während er die Kreide fest auf die Tafel drückte, ein Ergebnis ausrechnete und beim zweiten zögerte. Olivia sah, wie Audrey eine winzige Zahl in die Ecke ihrer Tafel schrieb und sie leicht antippte, um seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Zweifellos wäre sie mit ihren Gleichungen schon fertig, doch stattdessen versuchte sie, ihrem Bruder zu helfen.
Olivia wusste, dass sie das Mädchen ermahnen sollte, doch sie tat es nicht. Sie erkannte Audreys Absicht: Sie wollte ihrem Bruder helfen, einem kritischen Elternteil zu gefallen. Denn obwohl Mrs Howe insgesamt freundlich mit den Kindern umging, ermahnte sie den Jungen wesentlich öfter als Audrey.
Unwillkürlich wurde Olivia daran erinnert, wie sie selbst als Mädchen gewesen war – und wie sie dem Schüler aus Harrow erlaubt hatte, das Wettrechnen zu gewinnen, um ihm eine Demütigung zu ersparen. Tränen brannten in ihren Augen, hervorgerufen durch den Schmerz der Erinnerung und die gerührte Zuneigung zu Audrey, die versuchte, ihren Bruder zu schützen. Olivia nahm sich vor, ihr Bestes zu geben, um Andrews Wissenslücken zu schließen und ihm die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm fehlte.
Schließlich wurde es Mrs Howe langweilig und sie verabschiedete sich, wobei sie Olivia mit einer großzügigen Geste aufforderte, »weiterzumachen«.
Als sich die Tür hinter ihr schloss, atmete Olivia tief durch. Audrey und Andrew taten es ihr nach.
Olivia wusste, dass die Kinder es nicht gewöhnt waren, stundenlang Aufmerksamkeit zu zeigen, deshalb unterbrach sie den Unterricht um zwei Uhr. Sie wäre gern mit den Kindern nach draußen gegangen, doch das Wetter war sehr ungemütlich – eiskalter Regen schlug gegen die Fensterscheiben.
Stattdessen lud sie die Kinder ein, im Zimmer Bäumchen wechsel dich mit ihr zu spielen, und merkte, wie viel Spaß es ihr machte, für die Unterhaltung ihrer Schüler zu sorgen.
Becky, die nun nicht nur Dienstmädchen für das Kinderzimmer war, sondern auch die Aufgaben des zweiten Kindermädchens übernommen hatte, ging in die Küche, um das Abendessen nach oben zu holen. Olivia überraschte die Kinder, indem sie die ganze Mahlzeit über Französisch sprach. Sie ermutigte sie, die Namen einfacher Gegenstände – »fourchette, poulet, pomme de terre« – zu wiederholen und »si’l vous plaît« und »merci« zu sagen, wenn sie um etwas baten. Audrey ließ sich sofort für dieses Spiel begeistern, doch Andrew murrte. Er wollte normales Hühnchen und Kartoffeln und mit einer Gabel essen, statt mit seiner fourchette .
Olivia tadelte ihn nicht. Sie verstand, wie schwer es war, den ganzen Tag den Kopf anzustrengen, wenn man es nicht gewohnt war. Auch sie fühlte sich erschöpft. Nach dem Essen erlaubte sie ihm, Seil zu hüpfen, während Audrey ein paar neue Tanzschritte lernte.
Nachdem Becky den Kindern am Abend in ihre Nachthemden geholfen hatte, ging Olivia ins Schlafzimmer, um dabei zu sein, wenn sie ihre Gebete sprachen. Weil Audrey und Andrew den Tag im Schulzimmer verbracht hatten und ein großer Teil dieser Zeit dem Lesen gewidmet gewesen war, dachte Olivia, sie würden das abendliche Vorlesen vielleicht gern ausfallen lassen. Doch beide bestanden lauthals darauf. Olivia war froh, dass die Kinder ihr Abendritual fortsetzen wollten, obwohl sie jetzt ihre Gouvernante war. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, was sie – oder zumindest Audrey – über ihre letzte Gouvernante gesagt hatten.
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Eine Gouvernante muss vernünftig genug sein, nicht in die häusliche Privatsphäre einzudringen. Und sie darf sich natürlich nicht auf ein zu vertrauliches Verhältnis mit den Dienstboten einlassen.
Samuel & Sarah Adams, The Complete
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