Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Servant
Bevor Olivia die Gelegenheit hatte, an Miss Cresswell zu schreiben, erhielt sie selbst einen Brief von ihr. Auf Anweisung von Mr Hodges brachte Becky ihn ihr nach oben. Offenbar hatte Lord Bradley nicht den Wunsch, die Post zu überprüfen, die für sie eintraf. Olivia nahm den Brief entgegen und erkannte sofort Miss Cresswells vornehm geschwungene Schrift. Sie entschuldigte sich den Kindern gegenüber, um allein zu sein, wenn sie den Brief las.
Liebe Olivia,
mit großer Freude habe ich ein Leumundszeugnis für eine Mrs Judith Howe geschrieben, um darzustellen, wie überaus qualifiziert Sie für den Posten einer Gouvernante sind. Ich hoffe, dies wird Ihnen eine Anstellung verschaffen, die Ihnen und Ihren Schülern gleichermaßen von Nutzen ist. Ich gestehe, ich war erleichtert, von Ihnen zu hören, meine Liebe, nachdem Sie so plötzlich verschwunden waren. Ich fürchtete, ich würde auch zu Ihnen den Kontakt verlieren. Wissen Sie,
Hier war ein Wort – wo , glaubte sie – durchgestrichen, ganz ungewöhnlich für Miss Cresswells normalerweise fehlerfreie Schreibweise. Der Satz ging weiter
wann Sie uns besuchen könnten?
Das ist seltsam , dachte Olivia. Ein vollkommen höflicher Brief, doch ohne jede Erwähnung, wie es ihrem Vater oder ihrer Mutter ging, obwohl sie und Miss Cresswell seit langem befreundet waren. Warum erwähnte Lydia Cresswell nichts vom Weggang ihrer Mutter? Oder war sie doch dort geblieben? Sollte ihre Mutter tatsächlich noch zu Hause sein, würde ihr Miss Cresswell sicher von der Anforderung des Zeugnisses erzählen und auf diese Weise würde ihre Mutter zumindest erfahren, wo Olivia sich aufhielt. Wann würde sie kommen?
Olivia war auf jeden Fall erleichtert, dass der Brief kein Wort des Beileids oder des Misstrauens enthielt. Miss Cresswell würde ganz bestimmt keinen so kurzen, höflichen Brief schreiben, wenn das Schlimmste eingetroffen wäre.
Olivia begann den Nachmittagsunterricht, indem sie Fragen aus Mangnalls Historical and Miscellaneous Questions for the Use of Young People 3 stellte. Miss Cresswell hatte das Buch in ihrem Unterricht sehr oft verwendet und Olivia war erleichtert gewesen, eine Ausgabe davon im Regal des Schulzimmers zu finden.
»Nun, Andrew, du wirst die Antwort noch nicht wissen, aber bitte hör trotzdem genau zu.« Sie räusperte sich und las: »Nenne die bedeutenden Ereignisse des ersten Jahrhunderts.«
»Ich fürchte, das weiß ich auch nicht, Miss Keene«, sagte Audrey.
»In Ordnung. Überlegen wir einmal gemeinsam.« Aber bevor sie weitersprechen konnte, erklang Lord Bradleys tiefe Stimme.
»Die Gründung Londons durch die Römer«, begann er und lehnte sich an die hintere Wand des Schulzimmers. »Rom verbrannte unter der Herrschaft von Nero, und die ersten Christen wurden durch ihn verfolgt.«
Olivia sah ihn gebannt an, die Lippen leicht geöffnet.
»Jerusalem wurde von Titus zerstört und das Neue Testament wurde verfasst.«
»Bravo, Mylord!«, sagte Olivia lobend. »Sie verdienen alle Ehre. Sie haben die Verfolgung der Druiden in Großbritannien vergessen, aber das war trotzdem hervorragend.«
Er verbeugte sich.
Aus dem Konzept gebracht und verwirrt, weil seine blauen Augen sie so teilnahmslos musterten, wandte sie den Blick zurück auf das Buch und las eine weitere Frage. »Nenne einige gefeierte Personen des sechzehnten Jahrhunderts.«
»Oh!«, erwiderte Audrey. »Das weiß ich. Christoph Kolumbus und … Martin Luther.«
»Sehr gut, Audrey.«
Lord Bradley wirkte weniger zufrieden. »Aber was ist mit den Reformatoren Calvin, Melanchthon und Knox? Oder den großen Navigatoren Gosnold und Sebastian Cabot, nach dem Onkel Sebastian benannt wurde? Und den Astronomen Tycho Brahe und Kopernikus?«
Olivia wurde langsam ungehalten. »Sehr gut, Mylord, aber Sie sind keiner meiner Schüler.«
»Das bin ich in der Tat nicht und ich bin dankbar dafür. Kann ich Sie einen Moment sprechen?«
Sie starrte ihn unsicher an.
»Allein?«, fügte er hinzu.
Sie schluckte. »Andrew, bitte schreib das Alphabet auf, und Audrey, du notierst bitte die Ereignisse aus dem ersten Jahrhundert, an die du dich erinnerst.«
Sie folgte Lord Bradley ins Kinderzimmer, aber dort schnarchte Miss Peale leise in ihrem Schaukelstuhl, deshalb führte er sie stattdessen in den Korridor hinaus.
»Miss Keene, wollen Sie meine jungen Verwandten bilden oder zu Tode langweilen?«
Sie rang nach Luft. »Was meinen Sie?«
»Mangnalls Fragen? Das ist nichts als auswendig
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