Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
gelerntes Wissen. Sie müssen Ihnen beibringen zu denken, Miss Keene, damit sich ihre Logik und ihr Urteilsvermögen entfalten.«
»Ich plane das ebenfalls, mein Herr, aber bestimmte Tatsachen sind wesentlich und legen das Fundament für die zukünftige Beschäftigung mit Politik, Geschichte, … und Audrey ist genau im richtigen Alter, um Tatsachen auswendig zu lernen. Sie ist aufnahmefähig wie ein Schwamm.«
»Und Andrew dagegen wie ein vertrockneter Knochen.«
»Er ist jung, das gebe ich zu, aber ich gebe ihm auch andere Aufgaben, die besser für sein Alter geeignet sind.«
»Das hoffe ich. Ein lebhafter Junge wie er kann nicht den ganzen Tag dasitzen und zuhören, wie Sie und Audrey eine Tatsache nach der anderen herunterrattern, über tote Menschen und abstrakte Begriffe. Da ist er sofort am Ende seines Lateins.«
»Ich verstehe Ihre Befürchtungen. Und wenn wir gerade von Latein reden – Sie werden sicher bald einen Tutor für ihn engagieren wollen. Ich kann nicht behaupten, Expertin darin zu sein. Vielleicht Mr Tugwell?«
»Andrew ist noch ein bisschen zu jung dafür, meinen Sie nicht?«
»Nicht, wenn Mrs Howe die Absicht hat, ihn nach Harrow oder Eton oder eine andere derartige Schule zu schicken.«
»Ich glaube nicht, dass sie jetzt schon definitive Pläne hat, Miss Keene. Ich verlasse mich auf Sie, dass Sie ihn selbst nach besten Kräften unterrichten. Fürs Erste.«
»Ich werde mein Bestes tun mit dem, was ich zur Verfügung habe.«
Er sah sie aufmerksam an. »Was fehlt Ihnen denn?«
»Lehrbücher, die seinem Alter entsprechen, eine Wandtafel für Geografie …«
»Eine Wandtafel?«
»Ja, eine große Schiefertafel, die an der Wand angebracht wird. Ein schottischer Schulleiter hat sie erfunden, soweit ich weiß. Obwohl ich vermute, dass es nur einen knappen Vorrat an großen Schieferstücken geben wird.«
Er zog seine Mundwinkel spöttisch nach oben. »Sonst noch etwas?«
»Etwas Geduld von Ihrer Seite wäre höchst willkommen, das kann ich Ihnen versichern.«
»Auch davon ist der Vorrat knapp.« Er warf ihr einen langen Blick zu, drehte sich dann auf dem Absatz um und stieß beinahe mit Felix zusammen, der den Korridor entlang kam. Sie hatte nicht gewusst, dass er dieses Wochenende wieder hier zu Besuch sein würde. Lord Bradley ging wortlos an ihm vorbei.
Felix schaute ihm nach, die Brauen hochgezogen, dann wandte er sich ihr zu.
»Er muss viel von Ihnen halten, Miss Keene, sonst würde er Sie nicht so unter Druck setzen.«
Felix hatte Lord Bradleys Tadel also gehört. Sie zweifelte an seiner Interpretation.
»Es ist wirklich so«, beteuerte Felix. »Meine Schwester sagt, Sie sind eine ausgezeichnete Lehrerin und sehr klug. Ja, ich glaube, genau das waren ihre Worte. Edward sieht, was in Ihnen steckt, und deshalb fordert er so viel von Ihnen.« Er fügte gutmütig hinzu: »Und deshalb ignoriert er mich mehr oder weniger.«
Dies weckte ihr Interesse. »Tut er das tatsächlich?«
»Oh, missverstehen Sie mich nicht. Er ist freundlich zu mir. Aber einfach nie zufrieden. Er ist ein furchtbarer Perfektionist, das muss Ihnen inzwischen auch schon aufgefallen sein. Ich habe versucht, ihn abzulehnen, aber es gelingt mir nicht. Ich sollte furchtbar neidisch auf ihn sein, und ich vermute, in mancher Hinsicht … Aber gleichzeitig tut er mir leid. Er hat nirgendwo richtig hingepasst und glücklich gewirkt. Nicht in Harrow, nicht in Oxford, nicht in London. Sehen Sie ihn jemals lachen?«
Olivia dachte nach. »Manchmal, glaube ich … wenn er mit den Kindern zusammen ist.«
»Wenn das so ist, dann lacht er nur mit ihnen. Wenn der Neid mich zwickt, sage ich mir immer: Felix, wer von den beiden möchtest du lieber sein? Unglücklicher Erbe eines Titels oder ein fröhlicher Mensch ohne Titel mit ausreichenden Mitteln und endlosen Stapeln von Einladungen?«
Olivia lächelte ihn an, gerührt von der Verletzlichkeit in seinen Augen.
»Ach, Miss Keene. Was für ein Schatz Sie sind, dass Sie mir zuhören, wie ich vor mich hinplappere. Wissen Sie, es ist ziemlich ungewöhnlich, dass jemand seine Gouvernante ins Vertrauen zieht. In sein Bett, ja, aber nicht in sein Vertrauen. Nicht, dass Sie nicht in meinem Bett willkommen wären – das heißt, wenn Sie das wollten, was natürlich nicht der Fall ist, oder?«
Verlegen antwortete Olivia mit einem deutlichen Kopfschütteln. Aber sie konnte ihm nicht besonders böse sein, nachdem er den Vorschlag so demütig vorgebracht hatte.
»Nun gut. Fragen tut
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