Das Schweigen der Toten
Um sie zu besänftigen, hatte er ihr einen Becher extrastarken Kaffee mitgebracht, doch den hatte sie ihm aus der Hand geschlagen.
«Ich habe getan, wofür ich bezahlt werde», sagte er und betrachtete die Spritzer auf seinen Schuhen. «Böse Buben schnappen.»
«Obwohl ich Ihnen gesagt habe, Sie sollen warten?»
«Sie haben mir gar nichts zu sagen. Ich bin der Landespolizei unterstellt.»
Nick war froh, dass Blicke nicht töten konnten. Denn sonst wäre es spätestens jetzt um ihn geschehen gewesen.
«Aber ich trage Verantwortung für diese Stadt», entgegnete sie. «Und für die Menschen, die hier leben, einschließlich Henry Goll. Statt die Menschen in Gefahr zu bringen, versuche ich, sie zu beschützen. Was, wenn er draufgegangen wäre?»
Nick schnaufte. «Ist er ja nicht.»
«Es hätte aber nicht viel gefehlt.»
«Henry wollte helfen», erwiderte Nick. «Er wusste, dass Lucas Hatcher Dreck am Stecken hat und wollte ihn überführen.»
«Das wollte ich auch.»
Kat ließ die Schultern hängen. Ihre Erschöpfung war größer als ihr Ärger. Nick sah ihr an, dass sie kaum geschlafen hatte. Wahrscheinlich erklärte das ihre miese Stimmung. Nun, Nick hatte auch nicht viel geschlafen, auch er war mies drauf. Angefressen und auf Ausweiskontrolle aus.
«Offenbar nicht entschieden genug», sagte er.
«Was soll das heißen?»
Nick geriet in Wallung. Aus dem Stressabbauseminar, zu dem ihn Gloria Ambrose verdonnert hatte, wusste er, dass der entscheidende Moment gekommen war. Er konnte sich jetzt zurückhalten, oder er ließ seiner Wut freien Lauf und sagte Dinge, die er hinterher bereuen würde.
Nick ließ seiner Wut freien Lauf.
«Wollen und Tun sind immer noch zweierlei», blaffte er. «Manche reden immer nur schön daher, und wenn es dann an der Zeit ist, Maßnahmen zu ergreifen, kneifen sie. Sie sind genau wie die.»
Die Worte platzten aus ihm heraus, ehe er den Verstand einschalten konnte. Kat kniff die Augen zusammen.
«Die?»
Nick spürte, wie ihm der verschüttete Kaffee durch die Schuhe sickerte. Er musste der Seminarleiterin doch recht geben: Man war tatsächlich gut beraten, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Er bedauerte, ausfallend geworden zu sein. Jetzt würde er alles erklären müssen.
«Ich meine die Polizei», murmelte er. «In Newton, Ohio, aber auch anderswo, in vergleichbaren Fällen. An die hatte ich gedacht.»
Kat ließ sich schnell erweichen. Sie legte den Kopf schräg, musterte Nick und fragte sich, was wohl in seinem Kopf vorging.
«Das hat jetzt aber nichts mit Meister Tod zu tun, oder?»
Nick hatte keine Wahl und gestand, dass er an seine Schwester gedacht hatte. Sarah Donnelly, seine hübsche, fünf Jahre ältere Schwester, war eines Tages von der Arbeit in einem Drugstore in der Hamilton Street nicht mehr nach Hause zurückgekommen.
«Monatelang lebte meine Familie in ständiger Angst», sagte er. «Es gab keine Spur von ihr, keinen Hinweis auf das, was mit ihr geschehen war. Nichts.»
Diese Ungewissheit hatte seine Eltern und ihn gelähmt. Sie konnten nicht trauern, geschweige denn ihre Trauer überwinden. Doch auch die Hoffnung kam ihnen abhanden, und so blieben sie untätig. Es wurde in der Familie kaum ein Wort gesprochen, nichts regte sich. Sie warteten einfach nur.
«Dann hat man sie schließlich gefunden. Fünfzehn Jahre alt ist sie nur geworden.»
Nick legte eine Pause ein. Auch nach dreißig Jahren quälte ihn die Erinnerung daran. Es fiel ihm schwer, darüber zu reden, und doch musste er sich Kat gegenüber verständlich machen.
«Man fand sie in einem Wald zwanzig Meilen außerhalb der Stadt», fuhr er fort.
Kat dachte an ein früheres Gespräch mit Nick zurück und zählte eins und eins zusammen.
«Floyd Beem.»
«Man konnte ihm den Mord an ihr nicht nachweisen», sagte er. «Die Polizei und auch das FBI hatten versprochen, ihr Möglichstes zu tun. Aber das bezweifle ich. Der Drugstore-Killer saß hinter Gittern und hatte fünf Morde gestanden. Dass ein Fall unaufgeklärt geblieben war, interessierte niemanden mehr. Den Ermittlern war letztlich egal, dass es da in einer kleinen Stadt in Ohio eine Familie gab, die nie erfahren würde, wer ihre Tochter umgebracht hat.»
«Ist dieser Floyd Beem noch am Leben?», fragte Kat. «Wär’s möglich, dass Sie mit ihm sprechen?»
Nick schüttelte den Kopf. Floyd Beem war vor fünfundzwanzig Jahren gestorben. Ob er Sarah tatsächlich getötet hatte, würde sich nicht mehr in Erfahrung bringen
Weitere Kostenlose Bücher