Das Schweigen des Lemming
in Abu Ghraib.
«So», meint er jetzt. «Ich denke, wir haben genug geplaudert. Wir wollen ja nicht, dass uns der arme Kerl da drüben noch erfriert …»
«Aber …», startet der Lemming noch einen Versuch.
«Schluss!», schneidet ihm Putzer das Wort ab. «Glauben S’, ich merk nicht, dass Sie nur Zeit schinden wollen, damit sich der Pokorny absentiert? Aber da kennen S’ ihn schlecht: Der gibt nicht klein bei. Nicht so schnell jedenfalls. Der ist einer von den unbelehrbaren Buben, von den ganz bockigen. Ein harter Knochen, sogar noch als Eisbein … Alsdann, Herr Wallisch. Und nicht vergessen: Ihrer ist dereinst das Himmelreich, während unsereiner nur Yachten und Villen besitzt …»
Kein
Aber
mehr, kein Aufbegehren, kein Widerstand. Und auch keine Hoffnung. Nur noch die Augen schließen, sich – ganz nach der Art kleiner Kinder – unsichtbar machen, um dem Schicksal zu entfliehen. Als der Bär mit forschem Schritt den Raum verlässt, begleitet ihn nichts als das Schweigen, das traurige Schweigen des Lemming.
28
Können gehörlose Menschen den eigenen Herzschlag vernehmen? Der Lemming hat sich diese Frage nie gestellt. Jetzt aber tut er es, und das aus gutem Grund: Seine Sinne scheinen nach und nach den Geist aufzugeben, scheinen all ihre Kräfte zu bündeln und auf den einzigen noch verbleibenden zu fokussieren: auf sein Augenlicht. Er kann nichts mehr spüren als ein dumpfes Pochen imHinterkopf, er kann nichts mehr hören als das stetige Stampfen des Blutes in seinen Ohren. Umso schärfer dagegen, umso klarer ist das, was er sieht: Das Gehege der Pinguine liegt vor ihm wie eine Bühne, nein: wie eine Leinwand. Nur dass sich der Streifen, der heute gezeigt wird, bei all seiner optischen Brillanz als Stummfilm erweist.
Die Scheinwerfer geben den Auftakt: Mit einem Schlag tauchen sie das Gehege in gleißendes Licht. Wie schon in der Samstagnacht dürfte Putzer den Schaltkasten draußen im Vorraum geöffnet und die entsprechenden Knöpfe gedrückt haben – am Samstag wahrscheinlich, um sich selbst zurechtzufinden, diesmal vielleicht, um seinem Publikum, seinem einzigen Zuschauer die optimale Bildqualität zu bieten. Der Lemming, der gekrümmt auf seinem Logenplatz kniet, hält den Atem an. Er ist bereit für das Schauspiel, bereit, dem Duell zwischen Putzer und Pokorny gefesselt zu folgen.
Kaum flammen die Lampen auf, geht eine plötzliche, wenn auch nur leichte Veränderung durch das bisher so statische Bild: Während die zwölf Pinguine – offenbar verwirrt vom jähen Einbruch des Polartags – ihre kleinen Körper straffen und die vibrierenden Flügel spreizen, hebt Pokorny langsam den Kopf. Versucht dann, sich aus seiner Kauerstellung aufzurichten. Vergeblich: Sein Leib scheint völlig erstarrt zu sein. Aber Pokorny gibt nicht so rasch auf. Er stützt sich mit den Händen auf den Boden und probiert unter sichtlichen Mühen, sein linkes Bein zu strecken.
Schneller, denkt der Lemming, schneller … Und er denkt es nicht nur, er flüstert es, ruft es, ja brüllt es, so laut er nur kann: «Schneller, Pepi! Beeil dich, verdammt!» Seine Stimme dröhnt durch den Besucherraum, prallt von der Glasfront ab und verhallt; sie vermag weder Pokorny noch den Bären zu erreichen, der jetzt jenseits der Scheibe die Szene betritt.
Bernhard Putzer, Platzanweiser und Beleuchter, ist nun also zum Hauptdarsteller avanciert. Er schließt die unscheinbareTür an der Seitenwand, geht federnd in die Mitte des Geheges und bleibt stehen. Dreht dann unvermittelt den Kopf nach rechts und winkt dem Lemming zu. Grinsend zeigt er auf Pokorny und reibt sich in pantomimischer Weise die Arme, um gleich darauf den Kragen seiner Jacke hochzuschlagen: eine Pose, die an französische Filme der sechziger Jahre gemahnt. Pen Gwyn scheint den Bären noch gar nicht bemerkt zu haben: Er kehrt der Szene nach wie vor den Rücken, fieberhaft damit beschäftigt, seine Beine aus der Starre zu befreien.
«Gib Acht, Pepi! Hinter dir!»
Ist der Ausruf des Lemming nun doch durch die Glasfront gedrungen? Pokorny hält inne, wittert und lauscht. Stützt sich dann abermals auf den Beton und beginnt, sich zögernd zu erheben. Schwankend ringt er um Gleichgewicht, streicht sich über die Schenkel, die Knie, als wären sie schlafende Babys, die es aufzuwecken gilt. Es dauert eine Weile, bis er wieder auf den Füßen steht und endlich tut, was er schon längst hätte tun sollen: Er wendet sich um.
In diesem Moment wird dem Lemming
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