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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Watzka.
    Er hat Watzka zwar noch nie gesehen, ist ihm nie begegnet. Trotzdem ist der Mann ein rotes Tuch für ihn. Watzka ziehtin der Telefonzentrale des forensischen Instituts die Fäden, und er bedient sich dabei desselben Verfahrens, mit dem man auch gordische Knoten knüpft. Wann immer Watzka seinen Dienst verrichtet, schickt er den Lemming auf eine nervenzermürbende Odyssee durch Dutzende von Nebenstellen, bevor er ihn endlich – wohl eher aus Versehen – mit Bernatzkys Apparat verbindet.
    «Guten Tag», brummt der Lemming. «Wären Sie so freundlich, mich mit   …» Dann aber huscht mit einem Mal ein Lächeln über sein Gesicht. Er hat eine Idee.
    «Wenn S’ mich bitte mit dem Herrn   … Blaschek verbinden.»
    «Moment!»
    Ein Knacken im Hörer. Und – gleich darauf – die altvertraute, leicht schnarrende Stimme: «Bernatzky? Wer stört?»
     
    Das forensische Institut befindet sich an einem taktisch äußerst klug gewählten Punkt, nämlich zwischen dem alten und dem neuen Allgemeinen Krankenhaus. Es liegt in der Verlängerung der Lazarettgasse, an deren nördlicher Seite sich auch der mächtige Gebäudekomplex des neuen AKH erhebt. Man mag die lineare Anordnung dieser zwei Institutionen, dieses städtebauliche Raum-Zeit-Kontinuum vielleicht noch als Zufall betrachten. Dass die Straße aber zwischen Hospital und Prosektur ihren Namen ändert, das Lazarett gewissermaßen abstreift und von da an Sensengasse heißt, das ist zweifellos von tiefer, ja existenzieller Bedeutung.
    Der Lemming geht die Sensengasse entlang, biegt aber wenige Meter vor dem Haus der Gerichtsmedizin nach links ab, durchschreitet ein steinernes Tor und steigt einen waldigen Hügel hinauf. Über ihm steht wuchtig und rund das berüchtigte städtische Irrenhaus vergangener Zeiten: der Wiener Narrenturm.
    «Grad noch, dass d’ mich erwischst, Wallisch», hat ProfessorBernatzky vorhin am Telefon gesagt. «Ich bin nämlich schon am Sprung, zum Guglhupf hinauf   … Wie, was hast g’sagt? Eilig? Na, wenn’s gar so pressiert, kommst halt auch hin. Vierter Stock, ganz hinten, weißt eh, bei den Feuchtpräparaten.»
    1784 eröffnete Joseph   II. Österreichs erstes kaiserlich-königliches Irrenhaus, den Narrenturm eben. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein waren hier auf fünf Etagen Tausende psychisch kranker Menschen untergebracht. Sie vegetierten in winzigen, eiskalten Zellen dahin, eingekerkert wie Tiere, oft sogar angekettet wie Untiere: Nicht weniger als drei Tonnen Eisenketten wurden in den oberen Geschossen gefunden, nachdem man die Anstalt geschlossen hatte, um das von der Wiener Bevölkerung liebevoll als
Guglhupf
oder
Tollhaus
bezeichnete Gebäude anderen Zwecken nutzbar zu machen. Im Jahr 1971 übersiedelte schließlich das Museum des Universitätsinstituts für pathologische Anatomie in den Narrenturm, der seither die weltweit größte Sammlung kunstvoll konservierter Leichenteile beherbergt.
    Gebeugt geht der Lemming die sanft geschwungenen Flure entlang, schleicht zwischen eingelegten Staublungen und Trinkerlebern, gepökelten Klumpfüßen und kleinen, rachitisch verformten Skeletten seinem Rendezvous entgegen. Wenigstens ist es hier kühler als draußen, auch wenn es nicht unbedingt frischer riecht: An allen Ecken und Enden verströmt der Tod seinen fauligen Hauch, da kann er noch so sehr mit Formalin gegurgelt haben.
    «Professor?»
    Angetan mit einem langen Ärztemantel steht der gedrungene, wohlbeleibte Bernatzky in einer der äußeren Zellen. Er dreht sich erst zur Tür um, als der Lemming den Raum betritt. Späht über den Rand seiner Brille, krault sich nachdenklich den weißen Bart und meint: «Komm her, Wallisch, hilf mir. Sag mir, welcher schöner ist   …»
    Mit einer ratlosen Geste deutet er auf zwei hohe Glaszylinder,die hinter ihm auf einem Tisch stehen. Aufrecht und reglos, die weißen, gedunsenen Arme wie zur Verteidigung angehoben, schwimmen zwei Föten darin. Die Augen der beiden sind fest geschlossen, straff spannt sich die dünne Haut der Lider darüber, als würden sie schlafen, träumen. Von einem Leben vielleicht, das sie nie geführt haben. Oder von der Unsterblichkeit, die ihren winzigen Körpern im Tod beschieden ist.
    «Keine Ahnung   …», sagt der Lemming nach einigem Zögern. «Um ehrlich zu sein, Professor, ich weiß auch nicht recht, warum   … warum Schönheit in diesem Fall eine Rolle spielt   …»
    «In welchem nicht?», gibt Bernatzky zurück und betrachtet versonnen die

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