Das Schweigen des Lemming
Götter der Neuen Welt, denen der östliche Teil des neunten Bezirks als Olymp dient, es sind die Götter in Weiß, die ihn zur Heimat und Basis der berühmten Wiener humanmedizinischen Wissenschaften auserkoren haben. Hier ließ Maria Theresias Leibarzt van Swieten die erste medizinische Klinik errichten, hier entwickelte Auenbrugger die
neue Erfindung der Percussion
, wie er sie nannte: das Beklopfen des Brustkorbs als Mittel der Diagnose. Störck begründete die experimentelle Pharmakologie, Frank das Lehrfach der Hygiene, Beer die erste Lehrkanzel für Augenheilkunde. Billroth, der Chirurg, die Gynäkologen Schauta und Wertheim, der Serologe und Nobelpreisträger Landsteiner, sie und noch viele andere mehr verhalfen der Wiener Medizinischen Schule einst zu internationalem Ruf.
Heute sind sie alle tot, diese meist bebrillten und bärtigenKoryphäen, da mögen sie noch so gute Ärzte gewesen sein. Alle jedenfalls bis auf einen, und der ist ausgerechnet forensischer Pathologe. «Wer sonst soll überleben, wenn nicht ich?», pflegt Professor Bernatzky immer zu sagen. «Einer muss ja übrig bleiben, der die anderen obduziert.» Um gleich darauf mit einer gespielten Gebärde der Selbstanklage hinzuzufügen: «Und das ist halt meistens der größte Aufschneider von allen …»
Der Lemming kennt Bernatzky noch aus seiner Zeit bei der Kriminalpolizei, und schon damals war der Alte ein lebender Mythos der Totenschau. Was sein nekroskopischer Blick nicht entdeckt, das ist auch nicht da, so lautete – völlig zu Recht – das ungeschriebene Gesetz der Krimineser: kaum ein Erfolg der Mordkommission, zu dem Bernatzky nicht mit harten Fakten die Weichen gestellt, kaum ein Triumph, den er nicht eingeleitet, aufbereitet, hieb- und stichfest untermauert hätte. Und als wäre das allein nicht schon genug für einen bejahrten Gelehrten, zeigt sich der Professor auch auf anderen, weniger makaberen Gebieten über die Maßen bewandert. Legendär ist beispielsweise sein enormes historisches Wissen, das durch sein eigenes Alter nur bedingt erklärbar ist.
Die Entscheidung des Lemming, sich nun also nach links zu wenden und dem gerichtsmedizinischen Institut zuzustreben, beruht nur zum Teil auf der Hoffnung, dort einen Supermarkt zu finden. Er sucht vor allem den Weg in die Vergangenheit, und kein anderer als Bernatzky soll ihn dorthin führen.
Eine halbe Stunde später ist der Lemming stolzer Besitzer eines eiförmigen Apparates, mit dem man nicht nur telefonieren, sondern auch Nachrichten schreiben, fotografieren und die Zeit stoppen kann. So hat es jedenfalls die Verkäuferin ausgedrückt. Und auf die etwas mokante Frage des Lemming, ob man sie wohl auch zurückdrehen könne, die Zeit, hat dieVerkäuferin schnippisch geantwortet: «Da müssen S’ halt in der Anleitung nachlesen!»
Eine Stunde später hat der Lemming die Gebrauchsanweisung fertig studiert. In seinem Kopf schwirren Pincodes und Pixel herum wie exotische, nie gesehene Schmetterlinge. Er weiß nun, dass er nicht nur die Zeit stoppen, sondern dass er sogar sein Profil verändern kann. Teufelswerk, denkt er aufgeregt. Das reine Teufelswerk. Er kann es kaum fassen, dass er bis heute ohne so ein Handy ausgekommen ist.
Eineinhalb Stunden später gelingt es dem Lemming, das Ei in Betrieb zu nehmen. Und Zauberei: Es funktioniert, das Zauberei. Eine Folge entsetzlicher Sinustöne wird plötzlich laut, die elektronische Version von Verdis
La donna è mobile
. In gewisser Weise ein akustisches Pendant zu diesen neumodischen Frauenbrüsten aus Silikon, wie der Lemming findet. Im selben Moment beginnt das Ei zu vibrieren, fängt in seiner Hand zu zittern an, zu zucken, als wäre es kurz davor, aufzubrechen und ein kleines Kunststoffküken an die Luft zu setzen …
Es ist schon kurz nach zwölf, als er Bernatzkys Nummer in die winzige Tastatur tippt. Mit einer Mischung aus Skepsis und banger Erwartung presst er das Ei an sein Ohr.
«Institut für Gerichtsmedizin, Watzka!», meldet sich am anderen Ende die Vermittlung.
Ein kleiner Schritt nur für die Menschheit, ein großer für den Lemming. Mit einundvierzig Jahren hat er es nun endlich auch geschafft: Er hat den bis heute so fernen Planeten betreten, den strahlenden Wandelstern der drahtlosen Telefonie. In seine Begeisterung mischt sich nun aber auch Verdrossenheit über den ersten außerirdischen Kontakt, den ihm sein frisch erblühtes Satellitenleben beschert. Ausgerechnet, denkt er grimmig. Ausgerechnet
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