Das Schweigen des Lemming
…
Nach der geistigen Ausformulierung dieses zwar sehr primitiven, aber zumindest stringenten Gedankengangs hat der Lemming noch einmal telefoniert. Nein, zweimal, um genau zu sein: Er hat zunächst erneut die nette Dame von der Auskunft angerufen, um eine weitere Nummer zu erfragen. Die hat er dann – kurz entschlossen, bevor sie seinem zahlenschwachen Gedächtnis wieder entgleiten konnte – in sein Handy getippt: im Grunde ein hoffnungsschwacher Versuchsballon; man rechnet ja nicht damit, dass prominente Personen höchstpersönlich am Apparat sind, wenn sie schon keine Geheimnummer besitzen.
«Riedmüller?»
Er ist geflogen, der Ballon, wider Erwarten. Jetzt wollte er nur noch gesteuert werden …
«Ja … Sind Sie es wirklich? Herrmann Riedmüller, der Maler?»
«Moment. Ich schau einmal nach …»
Ehe der Lemming seine nicht eben kluge Frage zurückziehen konnte, hatte der andere schon den Hörer aus der Hand gelegt.
«Sebastian!», ist sein kräftiges Organ aus dem Hintergrund erklungen. «Sebastian! Geh, komm her einmal … Na komm, mein Held … Sehr gut machst du das …»
«Da?» Die Stimme eines Kindes ist dem Lemming ans Ohr gedrungen, eines Babys schon eher, des Sprechens noch lange nicht mächtig. Dann ein Krachen, ein Poltern …
«Du musst ihn festhalten, den Hörer, Sebastian … Schau … Und da hineinsprechen …»
«Da?»
«Sehr gut … Und jetzt sag einmal, wer ich bin.»
«Da?»
«Genau. Jetzt sag, Sebastian: Wer bin ich?»
Kurze Pause. Gleich darauf wieder die Kinderstimme.
«Liedmüller …»
«Sehr gut, Sebastian. Wunderbar … Jetzt kannst du dem Papa den Hörer wiedergeben … Hallo? Ja, ich bin es. Riedmüller. Mit wem hab ich denn die Ehre?»
So hat das Gespräch mit Herrmann Riedmüller begonnen, und dann hat ein Wort das andere ergeben. Man kann nicht behaupten, dass der Lemming den Ballon gesteuert hat, das nicht. Aber er hat ihn zumindest im Wind gehalten: Riedmüllers Frage nach dem Grund seines Anrufs hat er zwar zögerlich, aber wahrheitsgemäß pariert.
«Ihre Bilder», hat er gesagt. «Weil die gefallen mir nämlich sehr …»
«Schön! Schön!» Rund und satt sind die Worte aus Riedmüllers Mund geströmt, breit und zufrieden wie pausbäckige Kinder: Der Künstler schien die Antwort durchaus zu goutieren.
«Wollen Sie sich was anschauen kommen?», hat er gleich darauf gefragt.
«Natürlich … Sehr gern sogar!»
«Wunderbar! Wenn’s Ihnen passt, ich hab heut eh noch im Atelier zu tun. Die Rögergasse kennen Sie?»
«Aber ja, die ist gleich bei mir ums Eck.»
«Dann deck ich den Buben noch zu und bin in einer halben Stunde drüben …»
So gesehen war es Herrmann Riedmüller, der den Ballon des Lemming sicher gelandet hat.
Der unbedarfte Tourist, und ganz besonders jener aus Amerika, ist in der Regel bass erstaunt darüber, dass sich die Wiener Prominenz greifbar und sichtbar, manchmal auch hörbar inmitten des gemeinen Volks bewegt. Hier sieht man die nobelpreisgekrönte Schriftstellerin von ihrem Fahrrad steigen, da den gefeierten Burgschauspieler von seinem Motorroller. Dort wieder klettert der Bürgermeister aus der roten Straßenbahn, der Bundeskanzler aus dem schwarzen Audi undflaniert – ganz ohne den Schutz seiner Leibgarde – die Kärntner Straße entlang. In dieser Hinsicht ist die Alpenrepublik eine Insel der Seligen und ihre Hauptstadt nach wie vor eine Oase des Friedens.
Dass nun aber Herrmann Riedmüller,
der
Herrmann Riedmüller seine berühmten Gemälde in einem brüchigen, ja regelrecht verlotterten Zinshaus zu erschaffen pflegt, das keine fünf Gehminuten von der Wohnung des Lemming entfernt in einem gänzlich unbedeutenden Stadtviertel steht, verwundert sogar ihn, den Lemming, der doch geborener, tief verwurzelter Wiener ist. Er kämpft sich durch das Stiegenhaus nach oben, drückt sich an Bergen von Gerümpel vorbei, das auf den Fluren lagert, an vertrockneten Topfpflanzen, morschen Schränken, rostigen Schubkarren und Fahrrädern, bis er endlich das oberste Stockwerk erreicht. Die Tür des Malers ist leicht zu finden; die Artefakte, die sich daneben angesammelt haben, sind ganz spezieller, sichtlich künstlerischer Natur: lange, hölzerne Latten, wahrscheinlich, um Rahmen daraus zu bauen, mächtige Rollen aus grober Leinwand, um diese Rahmen zu bespannen, eine Vielzahl von Dosen und Säcken mit Farben und Pigmenten, um diese Leinwände zu bemalen. Daneben eine Batterie
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