Das Schweigen des Lemming
wichtiger Mann!»
Für einen kurzen Augenblick kommt es dem Lemming so vor, als läge ein Hauch von Verachtung in Riedmüllers Äußerung. Er überbetont die an sich schon betonten Silben der Worte, zieht sie in die Länge, als zweifle er an ihrer Wahrheit. Es ist die Ausdrucksweise alter, leicht seniler Fürsten und Grafen, ohne den näselnden Touch allerdings, eher ironisch als gelangweilt … Erst später wird der Lemming feststellen, dass Herrmann Riedmüller fast immer so spricht, Verachtung hin oder her.
«Ich kann mich erinnern, natürlich, er hat mir vor ein paar Jahren etwas abgekauft … Sie haben beruflich mit dem Herrn Kommerzienrat zu tun?»
«Ich … Nein, also … Nein. Mein Gebiet ist mehr … der Objektschutz.»
«Na bitte! Wunderbar! Die Welt kann nicht sicher genug sein, solange es Künstler gibt, die sie verunsichern … Und das andere Bild? Wo haben Sie das gesehen?»
«Bei einem Arbeitskollegen von mir …»
«Sehr gut! Fein! Und kenn ich den?»
«Ich weiß nicht … Er heißt Pokorny … Josef Pokorny …»
Diesmal lässt Riedmüllers Reaktion ein wenig länger auf sich warten. Er sieht den Lemming an, greift dann zu seinem Glas, das auf dem Boden steht, und trinkt. Betrachtet das geleerte Glas, schenkt nach und nimmt einen weiteren Schluck. Schließlich beugt er sich vor und bringt sein Gesicht ganz nahe an jenes des Lemming.
«Und woran haben Sie gedacht, Herr Wallisch? Etwas Großformatiges?»
Die Antwort erübrigt sich. Riedmüllers Gestik und Tonfall lassen keinen Zweifel daran, dass er den Lemming durchschaut hat.
«Nicht, dass ich mich nicht täuschen könnt», sagt er jetzt leise. «Aber … Du willst gar nichts kaufen von mir. Stimmt’s, Wallisch, oder hab ich Recht?»
Mit dem Duzen und dem Siezen ist es so eine Sache im Deutschen. Das Spiel mit diesen beiden Nuancen des täglichen Umgangstons kann so komplex und kunstvoll sein wie ein ganzes, aus Tausenden Noten erbautes Orchesterwerk. Es spiegelt das endlose Ringen um Distanz und Nähe wider, dem alles Zwischenmenschliche unterworfen ist. Junge Leute pflegen einander mit
Du
anzusprechen, außer sie sind ewig Vorgestrige, also unverbesserliche Reaktionäre. Betagtere Semester dagegen verwenden das
Sie
, es sei denn, sie sind ewig Gestrige, also unverbesserliche Achtundsechziger. Mit wachsender Vertrautheit wächst aber auch bei den übrigen Alten der Drang zum
Du
, wobei es der Ältere dem Jüngeren üblicherweise anzubieten hat, bevor er es selbst benutzt. Dass dabei auch die Örtlichkeit, die Tageszeit und – ganz besonders – der soziale Status eine Rolle spielen, kann die Entscheidung für ein solch geselliges Manöver ganz enorm erschweren: Ein kleiner Fehler nur, und die ganze fragile Vertrautheit verkommt zur plumpen Vertraulichkeit.
Ab und zu kommt es aber auch vor, dass einer den anderen mit
Du
tituliert, während der andere beim
Sie
bleibt oder gleich ganz verstummt. Das
Du
gilt hier beileibe nicht als Zeichen der Verbrüderung, vielmehr bringt es die größte denkbare Distanz zum Ausdruck, die zwischen kommunizierenden Menschen herrschen kann, sei es nun eine altersbedingte, hierarchische oder emotionale. Selten wird man im Kampfgetümmel des tobenden Wiener Autoverkehrs den Ausruf «Können S’ net blinken, Sie g’schissener Trottel, Sie depperter?» vernehmen; nein, spontane Schmähungen gehen in der Regel mit einem verächtlichen
Du
einher.
Der Umstand, dass Herrmann Riedmüller den Lemming sounvermittelt geduzt hat, wirkt also wie ein Akt der Erniedrigung, wie ein flagranter Schwund an Respekt. Trotzdem füllt er nun dessen Glas nach und hebt sein eigenes.
«Du willst nichts kaufen …», sagt er noch einmal. «Stimmt’s?»
«Wollen tät ich schon mögen …», stottert der Lemming.
«Aber bezahlen kannst du dir nicht leisten», ergänzt Riedmüller und grinst. «Das ist zwar eine Schande, dass es die Armut gibt, aber meistens eine Schande für die Reichen … Prost, Wallisch, Gesundheit.»
Und da wird dem Lemming mit einem Mal klar, dass das plötzliche
Du
des Malers keinem Mangel an Achtung entspringt. Ganz im Gegenteil: Riedmüller hat ihn auf sein eigenes Niveau gehoben, er hat ihn mit diesem kleinen, neckischen
Du
in gewisser Weise geadelt.
«Prost, Herr …»
«Nein bitte! Nicht mich Herrmann nennen. Ich bin da ein bisserl eigen, sogar mein Eheweib sagt Riedmüller zu mir …»
«Also Prost, Herr … Riedmüller.»
Sie
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