Das Schweigen des Lemming
geleerter Flaschen: Riesling, das klassische Lösungsmittel der geistigen Art …
Und dann Riedmüller.
Groß und breit tritt er dem Lemming entgegen, ein Berg von einem Mann. Schütter bewachsen ist sein karstiges Hochplateau, nur unter der Steilwand der Stirn wuchern die hängenden Gärten: ein Dickicht aus weißblonden Brauen, durch das zwei kleine, wache Augen blitzen wie unberührte Gebirgsseen. Im Gegensatz dazu wirken die tiefer gelegenen Regionen seines Gesichts beinahe kindlich: Rund sind Backen und Kinn, rosig ist der Mund, der sich nun zu einem leisen Lächeln verzieht.
«Sehr gut!», sagt Riedmüller, ohne den Blick zu heben, «sehrgut! Kommen S’ nur weiter, Herr Wallisch!» Und er schlurft dem Lemming voraus in seine heiligen Hallen, deren Heiligkeit bestenfalls eine gedachte, imaginierte ist: ein schmaler Vorraum, zwei nicht sehr geräumige Zimmer, das ist Riedmüllers ganzes Reich. Davon, dass es sich in früheren Zeiten um eine Wohnung gehandelt haben muss, zeugt aber nur noch der Grundriss, die simple bauliche Anordnung von Mauern, Türen und Fenstern. Wohnen kann man hier längst nicht mehr. Vielmehr verwachsen die Räume zu einer einzigen, dick verkrusteten Tropfsteinhöhle, zu einem bröckelnden, schillernden, bunten Pigmentparadies. Allein die Schichten, die sich auf dem Boden abgelagert haben, sind wohl mehrere Zentimeter dick. Wird nun das Volumen des Riedmüller’schen Ateliers durch diese – offenbar Jahre hindurch – verschütteten, verspritzten, zerstäubten und festgestampften Sedimente schon erheblich verringert, so tun die Bilderstapel, die ringsum an den Wänden lehnen, ihr Übriges: Mindestens hundert, schätzt der Lemming, werden es schon sein, schwere, großformatige Werke, allesamt geheimnisvoll der Mauer zugewandt.
Auf verschlungenen Pfaden, zwischen Kunststoffkanistern mit undefinierbarem Inhalt, aufgeplatzten Sandsäcken und wackligen Tischen hindurch, auf denen sich Tiegel und Tuben türmen, führt Riedmüller seinen Gast ins hintere Zimmer. Hier steht immerhin ein altes, gebrechliches Ledersofa, das in seiner frühesten Jugend schwarz gewesen sein dürfte.
«Bitte», sagt Riedmüller und bedeutet dem Lemming, Platz zu nehmen. «Nur keine Angst, es ist alles schon trocken … Glaub ich …»
Und so setzt sich der Lemming – zaudernd und schaudernd – mit seinem einzigen Anzug in dieses Meer aus Karminrot und Kobaltblau, aus Moosgrün und nie gesehenen Ocker- und Brauntönen.
«Sehr gut!», meint Riedmüller noch einmal. Er steht nun daund starrt mit gerunzelten Brauenbüschen zu Boden wie einer, der was vergessen hat.
«Natürlich! Der Wein! Der Wein!» Er wendet sich ab, geht wieder zurück in den Vorraum, langsam, gemächlich, mit leicht gebeugtem Rücken und hängenden Schultern wie ein alter Mann, obwohl er seinem Aussehen nach nicht älter als Mitte fünfzig ist. Vielleicht sind es auch seine Kleider, die diesen bedächtigen, nahezu greisenhaften Eindruck erwecken: die weiten, schlotternden Hosen, das altmodische Hemd, die etwas zu großen Pantoffeln, in denen die nackten Füße des Malers stecken. Alles natürlich verkrustet und farbverschmiert, aber nicht aus Koketterie, wie dem Lemming erscheint, nicht aus einem Hang zur manierierten Prahlerei wie bei vielen, vorwiegend jungen Künstlern, die sich am liebsten selbst bemalen, um mit kaum verhohlenem Stolz auf ihren träumerischen, der Welt entrückten Genius hinzuweisen. Nein, die Flecken auf Riedmüllers Kleidung sind keine selbst verliehenen Orden, sie ähneln dem Ruß in der Lunge eines altgedienten Bergmanns.
Zwei leidlich saubere Gläser, eine Doppelliterflasche Weißwein, so kehrt er nun wieder. Zieht sich einen wackeligen Stuhl heran und schenkt ein.
«Welschriesling», sagt er. «Gesundheit …»
«Prost … Und danke, dass Sie mich empfangen …»
Sie trinken.
«Gut», meint der Lemming anerkennend.
«Bisserl kälter könnt er sein. Ja … Also …»
Schweigen. Stirnrunzeln. Riedmüller nimmt noch einen Schluck. «Genau … Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen? Waren Sie in der Galerie?»
«Nein … Ich habe privat ein Bild von Ihnen gesehen. Zwei Bilder, um genau zu sein …»
«Ah ja … Schön. Schön. Und wo, wenn ich fragen darf?»
«Bei Bekannten von mir. Zuerst beim Herrn Hörtnagl …»
Riedmüller richtet sich auf. Breitet die Arme aus. «Ah!», sagt er dann. Und noch einmal: «Ah! Der Herr Kommerzienrat! Sehr gut! Sehr gut! Ein
Weitere Kostenlose Bücher