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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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rührend, denkt der Lemming, wie verloren diese halbwüchsigen Glatzköpfe aussehen, wenn sie einmal nicht im Rudel auftreten. Beinahe so, als wäre ihre nicht vorhandene Frisur nur auf ihr zartes Alter zurückzuführen. Als erstrecke sich die glatte rosa Babyhaut bis weit nach unten, wo selbst die Härtesten noch ihre weichen Stellen haben.
    Hinter der Budel Wallas Mausi: eine Erscheinung, die ganz dem übrigen Interieur entspricht. Brünetter Bubikopf, paillettenbesetztes, tief ausgeschnittenes Abendkleid. Sie raucht mit Zigarettenspitze, ganz mondän, und ignoriert erfolgreich die halb verschüchterten, halb begehrlichen Blicke des jungen Skinheads.
    «Es wird schon noch ein Zeiterl dauern, Franzl», wendet sie sich an Walla, «man hat sich gerade erst zurückgezogen   …» 
    «Macht nix, Mausi, macht nix. Is net so wichtig, brauchst ihn net stören, den   … den Herrn. Weil eigentlich», Walla senkt die Stimme und legt seine Hand auf ihren schmalen Unterarm, «eigentlich bin i eh nur da, weil i schauen wollt, wie’s meinem Mausi so geht   …»
    «Süß», sagt sie trocken. «Süß.» Zieht unbeirrt den Arm zurück, dämpft ihre Zigarette aus und beginnt, die kristallenen Sektflöten zu polieren, die an einer Spiegelwand neben ihr aufgereiht stehen.
    «Sag einmal, Mausi», versucht Walla nach einer Weile, das solchermaßen gestockte Gespräch wieder in Gang zu bringen, «hat er heut wieder die Kaisersuite g’nommen?»
    «Wer?»
    «Na, der Verga   … Der Herr   … Dings   …»
    «Nein. Die war schon belegt   …»
    «Aha   …»
    Walla scheint zu überlegen.
    «Dann is er im Venuszimmer?»
    «Nein   … In der blauen Grotte   …»
    «Ah so   … Na eh klar: Führerbunker   …»
    Walla dreht sich nach rechts, um den Glatzkopf neben sich mit einem süffisanten Grinsen zu bedenken. Der erwidert zwar den Blick, doch nicht das Lächeln. Mit dem Ernst eines Mannes, der die Bürde großer Geheimnisse trägt, streckt er das Kinn vor und nickt Walla kurz und verschwörerisch zu.
    «Blaue Grotte also», wiederholt der flinke Finger nun laut genug, dass es der Lemming auch ganz sicher hören kann. «Heut also im Parterre, der Herr, verstehe, ganz am End   …»
    Es ist so weit. Die Worte sind gefallen. Walla hat seinen Teil der Abmachung eingehalten, er hat den Präsentierteller serviert, jetzt braucht der Lemming nur noch zuzugreifen.
    Er steht auf, sieht suchend um sich und tritt an die Theke.
    «Äh   … Könnten S’ mir bitte sagen, wo   …»
    «Draußen, der Herr», meint Wallas Mausi, ohne von ihren Gläsern aufzublicken. «Gleich links um die Ecke   …»
    «Danke   …»
    Zügig verlässt er die Bar, lässt die Toiletten links liegen, eilt geradeaus, strebt einen düsteren, niedrigen Flur entlang, dessen Verlauf sich höchstens erahnen lässt: hier und da nur ein kraftloser Lichtpunkt, eine glimmende, flackernde Wandleuchte, die ihm den Weg weist. Bergwerksatmosphäre, denkt der Lemming. Führerbunker. Leise, ganz gedämpft dringen jetzt ferne Geräusche an sein Ohr, ein Raunen und Stöhnen,Röcheln und Seufzen, dann wieder der kurze, spitze Schrei einer Frau. Schaurige Klänge zwischen Wollust und Leiden, Qual und Ekstase, Inferno und Porno, wie sie Hieronymus Bosch komponiert hätte, wäre er Musiker gewesen. Himmel und Hölle: Sie reichen einander die Hände im Fleisch   …
    Aus der Finsternis taucht nun das Ende des Ganges auf: eine rostbraun gepolsterte Tür, auf der zwei goldene, jugendstilartig verschnörkelte Buchstaben prangen: ein
b
und ein
g
, so kunstvoll gestaltet und angeordnet, dass man sie auch als Zahl lesen kann. Die blaue Grotte, Zimmer 69.
    Der Lemming blickt sich um, presst dann ein Ohr an die Tür, lauscht konzentriert. Doch vergeblich: Kein noch so verhaltener Laut dringt durch die dicke, lederne Polsterung. Vorsichtig legt er die Hand auf die Klinke, drückt sie hinunter.
    Und siehe da: Der Sesam öffnet sich.
    Die meisten unmoralischen Dinge tut der Mensch mit Vergnügen, um sie erst später zu bedauern. In diesem Fall ist es gerade umgekehrt. Schmutzig fühlt sich der Lemming, als er den Kopf durch den Türspalt steckt, feige und schäbig, als er auf Zehenspitzen den Vorraum der Grotte betritt. Stunden werden vergehen, bis sich ein leises Gefühl der Befriedigung einstellen wird, ein Anklang von Schadenfreude über seine tückische und niederträchtige Aktion. Und irgendwann, in einigen Jahren vielleicht, wird jede Erinnerung an diesen Moment ein breites,

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