Das Schweigen des Lemming
Sekunden hat es gedauert, bis der Lemming mit schmerzhaft verdrehten Armen auf dem Boden gelegen ist, eingeklemmt zwischen dem flauschigen Teppich und dem drahtigen Karl. Dass die beiden nun doch leicht verschreckten Damen das Zimmer verlassen haben, nachdem sie von Plessel mit einem «Schleichts euch!» dazu aufgefordert worden waren, hat er nur akustisch mitbekommen. Erst nach mehreren Minuten hat der Druck auf seinem Rücken nachgelassen, Minuten, die Plessel offenbar dazu genutzt hat, sich zu waschen und anzukleiden. Von Karl unsanft hochgezogen und rücklings gegen die Wand gedrückt, hat der Lemming den Politiker nun endlich in voller Montur zu Gesicht bekommen, so, wie er ihn aus den Zeitungen kennt: ein aufgedunsener, nicht eben groß gewachsener Mann mit braunem, gescheiteltem Haar, khakifarbenem Cordanzug und dem unvermeidlichen blauen Halstuch im Kragen.
«Hören Sie», hat der Lemming geächzt, «ich will ja nicht …»
«Gusch!», hat Plessel unterbrochen. Und, zu Karl gewandt, hinzugefügt: «Durchsuchen!»
Man weiß ja oft selbst nicht so genau, was man alles an Kleinkram mit sich herumträgt; die Hosen- und Jackentaschen ausgewachsener Männer ähneln nur allzu oft denen kleiner Buben. Und so hat es den Lemming nicht wenig erstaunt, schon bald eine stattliche Sammlung unnützer Gegenstände auf dem Himmelbett liegen zu sehen: drei gute alte Schillingmünzen beispielsweise, die schon vor eineinhalb Jahrenihre Gültigkeit verloren haben. Ein kleines Kunststoffschwein mit einem aufgemalten Kleeblatt auf dem Rücken. Einen gesprenkelten Kieselstein – Erinnerung an einen Ausflug durch die Lobau, den er im Frühling mit Klara unternommen hat. Dann natürlich seinen Schlüsselbund und seine Brieftasche, für die sich Otto Plessel ganz besonders zu interessieren schien. Und schließlich den rettenden Fetisch, sein Handy, sein Ei.
«Wallisch also!» Plessel hat den Mund zu seinem altbekannten schiefen Grinsen verzogen und den Ausweis des Lemming zusammengeklappt. «Wallisch: Wenn das kein Judenname ist …»
«Was? A Jud?», hat nun auch Karl erstmals die Stimme erhoben. Während in seinen bislang ungerührten Augen ein warmer Schimmer der Vorfreude aufgeglommen ist, hat Plessel den Ausweis aufs Bett geworfen, den Rücken zu einem Buckel gekrümmt und sich mit hochgezogenen Schultern die Hände gerieben: «Nu, Herr Itzig? Wollen wir bissel Zores machen?» Selbstverständlich wäre in diesem Moment ein
Nein
die einzig opportune Antwort gewesen. Trotzdem hat sich der Lemming für ein
Ja
entschieden.
«Ja, Herr Plessel. Wenn Sie’s unbedingt darauf anlegen wollen, dann werden Sie Zores bekommen, die sich gewaschen haben … Wissen Sie eigentlich, was das dort ist?», hat er mit einer Kopfbewegung zum Bett hin gedeutet.
«Was? Das Mobiltelefon? Glauben Sie, ich lass Sie jetzt telefonieren?»
«Nicht nötig, Herr Plessel, aber vielen Dank für das Angebot. Und jetzt überlegen S’ einmal: Mit diesem Wunder der Technik kann man nicht nur telefonieren …»
«Scheiße, Chef! Scheiße! Die Sau hat Fotos g’macht!»
Alle Achtung, Karl, gut kombiniert. Nichts anderes war es, worauf der Lemming hinauswollte.
«Und bevor Sie mir jetzt das Handy ruinieren und glauben,damit ist die Sache erledigt, denken S’ gleich noch einmal nach … Haben Sie schon einmal davon gehört, dass man so digitale Bilder auch versenden kann?»
Das gewissenhafte Studium von Gebrauchsanweisungen kann zuweilen die Gesundheit retten, wenn nicht gar das Leben. Ob der Lemming wirklich dazu in der Lage gewesen wäre, ein Foto zu schießen, geschweige denn, es zu verschicken, ist völlig belanglos: Manchmal ist es nur die reine Theorie, die zählt.
«Wissen Sie, ich war schon gute fünf Minuten hier, bevor Sie mich bemerkt haben …»
«Herzeigen!», hat Plessel gebrüllt, das Telefon vom Bett gerissen und dem Lemming hingestreckt.
«Loslassen», hat der Lemming zu Karl gesagt. Hat dann sein magisches Ei genommen und es abgeschaltet.
Einen Moment lang hat es so gewirkt, als würde sich der Vergaser auf den Lemming stürzen, um ihm den Garaus zu machen. Als wäre er dazu bereit, seine Karriere, seine Freiheit und sein Leben zu opfern, nur um hier und jetzt der Tobsucht ihren Lauf zu lassen. Aber er hat sich gerade noch besonnen. «Gehen wir», hat er beinahe tonlos gesagt. «Gehen wir.»
Walla und Pekarek waren nicht mehr in der Bar, als die drei Männer den Führerbunker verlassen haben; sie hatten es
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