Das Schweigen des Lemming
nicht. Die ganze Sache ist nämlich zwei Tage später aufgeflogen. Ein Sammler hat der Löwin eine beträchtliche Summe für ihr Marienbildnis geboten, und ein bekannter Wiener Galerist wollte ihr sogar die Hühner abkaufen – für einen gigantischen Geldbetrag. Das war der Zeitpunkt, an dem die Löwin die Notbremse gezogen hat, ein bisschen aus Angst vor der eigenen Courage, vor allem aber aus moralischen Gründen: Die Grenze zwischen Schabernack und Gaunerei führt schließlich immer durch das Portemonnaie.
Hühner fressen ja bekanntlich alle Arten von Getreide, und sie tun es umso lieber, wenn die Körner grob gemahlen sind. Mais-, Weizen- und Roggenschrot: ein wahres Festmenü fürsFedervieh, da ist es den Vögeln auch ganz egal, ob du es vorher in Lebensmittelfarbe getaucht hast. Was sie dagegen partout nicht fressen wollen, das ist eine Mischung aus feinem Kies und Katzenstreu, auch wenn diese Mischung genauso aussieht wie die Getreidebrösel. Gelblich eingefärbt und auf jene Flächen verteilt, die am Ende weiß bleiben sollten, sind die ungenießbaren Steinchen dann auch von den Hendeln verschmäht worden …
Es war ein ganz schöner Aufwand, das unsichtbare Madonnenportrait wie ein buddhistisches Mandala auf die Holzplatten zu streuen, aber die Arbeit hat sich am Ende gelohnt: Nachdem ihm die Löwin das Geheimnis der zwölf apostolischen Hühner gestanden hat, ist der Sammler in schallendes Gelächter ausgebrochen. Und er hat das Bild dann doch noch gekauft, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner profanen Entstehungsgeschichte.
Was mit den Hühnern geschehen ist? Nein, die haben nach der Beichte der Löwin keinen Käufer mehr gefunden. Sie sind den Weg alles Irdischen gegangen, eins nach dem anderen. Um es dezent zu formulieren: Sie haben sich von der sakralen Kunst der Kochkunst zugewandt …»
20
Düster ist es in Jochen Hörtnagls Penthouse. An allen Fensterfronten sind die Jalousien herabgezogen, sie sperren den sonnigen Nachmittag aus, verbreiten Abendstimmung, Endzeitstimmung. Der Hausherr sitzt auf dem Sofa im Untergeschoss, sitzt dem Lemming gegenüber, aufrecht und scheinbar gefasst: ein Fels in der Brandung des Schicksals. Nur seine Stimme straft seine Haltung Lügen: Gebrochen und heiser klingt sie, so als wäre jedes Wort, jeder Ausdruck des Lebens ein Sakrileg an den Toten.
«Die Sache ist vorbei, Herr Wallisch … Vorbei …»
Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis gestern Abend die Feuerwehr am Franziskanerplatz eingetroffen ist. Und dann die Rettung. Und die Polizei. Der Lemming kann sich nur noch vage an die Vorgänge erinnern; Übelkeit, Angst und Bestürzung haben seine Sinne fast bis zur Besinnungslosigkeit getrübt.
Er weiß noch, dass zwei Männerstimmen auf ihn eingedrungen sind, eine von hinten zunächst, dann eine zweite gleich neben dem Schwenkarm des Krans: «Alles in Ordnung, nur die Ruhe … Machen S’ die Augen auf und geben S’ mir die linke Hand …»
«Geht nicht!», hat der Lemming hervorgestoßen. «Kann nicht!» Und er hat sich noch ein wenig fester ans Metall geklammert.
Am Ende ist es den Herren von der Feuerwehr auch ohne sein Zutun gelungen, den Lemming vom Gestänge zu pflücken und in den Korb der Drehleiter zu wuchten, die sie zu ihm hochgefahren hatten. Nicht lange, und er hat wieder Boden unter den Füßen gespürt, geliebten, geheiligten Boden: Wiener Asphalt.
«Na kommen S’, kommen S’, bleiben S’ liegen …»
Erstversorgung im Krankenwagen. Von den zerschmetterten Resten Florian Hörtnagls hatten sich die Sanitäter schweren Herzens abgewendet, da war eindeutig nichts mehr zu sanieren. Also widmeten sie sich nun mit ganzer Kraft dem Lemming, ihrem einzigen noch verbleibenden Patienten: Man will ja nicht vergeblich durch die halbe Stadt gefahren sein.
«Blass is er …»
«Wissen Sie Ihren Namen?»
«Kühl is er …»
«Und das Datum? Wissen S’ das heutige Datum?»
«Schwitzen tut er …»
«Können S’ mir sagen, wie viel drei mal acht ist?»
«Du, Franzl, i glaub, der hat einen Schock …»
Irgendwann hat es dem Lemming gereicht. Er hat sich rechtfreundlich für die Diagnose bedankt und ist aus dem Wagen geklettert. Dort aber hat ihn die dritte Fraktion des vereinigten Blaulichtkartells erwartet: die Polizei.
«Sie, warten S’ einmal, bleiben S’ stehen …»
Zwei junge Polizisten mit adrett getrimmten Oberlippenbärtchen sind ihm in den Weg getreten.
«Was ist denn genau passiert da
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