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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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mitzumachen, bei einer gemeinsamen Werkschau mehrerer Studenten, die in den Räumen der Secession stattfinden sollte. Ein Kunstpapst wie dieser Gernot Halbsund hätte ihre Arbeit vielleicht als biomorphotische Installation bezeichnet, oder besser noch: als oszillierende Ahnung des Okkulten, dessen flüsternder Fluxus unmerklich zum Happening reift und Spuren ziehend übergreift auf die Befindlichkeit des Sehers, des Lauschers und Stauners   …
    Scheiß drauf. Stell dir einfach folgendes Szenario vor:
    Der Hauptraum der Secession. An den Wänden diverse Gemälde junger Künstler, hier und da auch Skulpturen, Objekte, flimmernde Computermonitore. In der Mitte der Halle eine leere quadratische Fläche, aus hölzernen Platten zusammengefügt und gut drei mal drei Meter groß. Bei näherer Betrachtung kann man erkennen, dass die strahlend weiß grundierten Platten seltsam gesprenkelt sind: Gleichmäßig bis an den Rand verteilt, liegen Tausende gelbliche Körner darauf, kaum größer als Stecknadelköpfe. Rund um das Geviert hat sich das Publikum aufgestellt. Sechzig, siebzig Leute werden es schon sein, die da ein wenig gelangweilt ihren Wein und ihr Mineralwasser schlürfen – die Erwartungen scheinen nicht gerade hoch zu sein, aber wenigstens haben ein paar Journalisten den Weg in die Ausstellung gefunden: Sommerloch, Saure-Gurken-Zeit. Man berichtet über das Wetter, über Loch Ness, den Yeti und die Kunst   …
    Von einer Ecke des Quadrats laufen zwei niedrige Holzplanken quer durch den Raum; sie schlagen eine schmale Bresche in die Gruppe der Zuschauer und enden an einer unscheinbaren Tür. Das Ganze wirkt wie ein zu klein geratener Boxring, wie eine Manege   …
    Irgendwann schiebt sich die Löwin – mit einem weißen Overall bekleidet – durch die Menge und ergreift das Wort. ‹Treten Sie bitte zwei Schritte zurück›, sagt sie, ‹bewahren Sie nach Möglichkeit Ruhe und machen Sie keine abrupten Bewegungen, um die Künstler nicht in ihrer Konzentration zu stören   …›
    Und dann ist es losgegangen. Die Tür am anderen Ende des Raums ist geöffnet worden, und heraus sind – tänzelnd und gackernd – zwölf Hühner gekommen.
    Von Ruhe war natürlich keine Rede mehr. Das Schnarren und Glucken der Vögel ist sofort vom Kichern der Leute übertönt worden – die Szene war ja auch wirklich skurril, vor allem, wenn man bedenkt, wie die Hennen ausgesehen haben: Als hätten sie sich für den jährlichen Maskenball der Ufologen als Außerirdische verkleidet. Um ihre Köpfe waren dünne Lederriemen geschlungen, von denen kleine, zitternde Spiralfedern abgestanden sind. Und oben an den Federn ist jeweils ein schwarzer Filzstift gesteckt   …
    Als die ersten Hühner in die Arena gestelzt sind, hat leise Musik eingesetzt: Aus versteckten Boxen ist das Ave-Maria von Brahms erklungen; die Zuschauer haben sich langsam beruhigt und sind mit belustigten Mienen dem Schauspiel gefolgt. Bald war nichts mehr zu hören als die Musik, das Gegacker und das Klopfen der Filzschreiber: Die Hendeln haben ganz gierig die Körner von der Holzplatte gepickt, und mit jedem hektischen Vorschnellen ihrer Köpfe sind auch die Spiralfedern nach vorne gewippt, sodass die Filzschreiber eine Unzahl winziger Punkte auf die Platte getüpfelt haben. Geflügelpointillismus, wenn du so willst   …
    Das ging gut eine halbe Stunde so. Und dann – mit einem Mal – ist das Publikum wieder unruhig geworden. Aber nicht aus Fadesse, beileibe nicht: Es war kein gelangweiltes Murren, das da plötzlich um sich gegriffen hat, sondern ein staunendes Tuscheln und Raunen.
    ‹Mein Gott   …›
    ‹Das ist doch   …›
    ‹Ich glaub’s einfach nicht   …›
    Der Bär, der Adler und der Floh haben den Anstoß gegeben; sie haben sich vorher schon unter die Leute gemischt, um – auf ein vereinbartes Zeichen – die Stimmung anzuheizen. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Zu klar hat sich die Zeichnung vom Untergrund abgehoben, zu eindeutig haben sich die schwarzen Punkte auf der weißen Fläche verdichtet, um noch einen Zweifel am Motiv des Kunstwerks offen zu lassen: ein Kopf, ein rundes Gesicht, von langen Haaren umrahmt. Und über dem Scheitel ein Glorienschein   …
    ‹Heilige Maria Muttergottes   …›
    Wunder im Herzen von Wien!
, so hat die
Reine Wahrheit
am nächsten Tag getitelt, und darunter:
Heilige Hühner sorgen für Aufruhr! Vatikan entsendet päpstliche Delegation

    Ob das mit dem Vatikan wirklich gestimmt hat, weiß ich

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