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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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eindringlich. »Hast du das verstanden, nach allem, was ich dir gesagt habe?«
    Ich betrachtete sie aufmerksam und sah, dass ihr blauer Blick feucht war. Arme Laura: Sie sprach die große Wahrheit ihres Lebens aus, und ich wollte es immer noch nicht wahrhaben.
    »Verzeih mir. Aber allein hätte ich es nicht geschafft.«
    In dieser Nacht liebten wir uns, Laura und ich, sehr zärtlich, sehr vorsichtig, als hätten wir Angst, uns selbst wehzutun. Neugierig betrachtete sie das Medaillon, das Adrià um den Hals trug, sagte aber nichts dazu. Und anschließend weinte sie: Es war das erste Mal, dass die fröhliche Laura mir ihre Traurigkeit zeigte. Sie erzählte mir nichts über alte Liebesgeschichten. Und auch ich schwieg.
    Danach schlenderten wir durch die Vatikanischen Museen und bewunderten in San Pietro in Vincoli über eine Stunde lang den Mose. Der Patriarch tat einen Schritt nach vorne, die Gesetzestafeln in der Hand, und als er sah, dass sein Volk ein goldenes Kalb anbetete und es umtanzte, packte er voller Wut die steinernen Tafeln, in die Jehova mit göttlicher Schrift die Punkte ihres Paktes eingeschrieben hatte, den neuen Bund mit seinem Volk, und zerschmetterte sie am Boden. Während Aaron sich bückte und ein kantiges Stück, nicht zu groß und nicht zu klein, als Erinnerung einsteckte, erhob Moses die Stimme und rief, ihr Idioten, was in Kuckucks Namen fällt euch ein, hier falsche Götter anzubeten, sobald ich euch den Rücken zukehre, verdammt noch mal, ihr undankbares Pack!Und das Volk Gottes sagte, verzeih uns, Mose, wir wollen es auch nicht wieder tun. Und er antwortete, nicht ich muss euch verzeihen, sondern der barmherzige Gott, gegen den ihr euch durch euren Götzendienst versündigt habt. Schon allein darum verdient ihr es, gesteinigt zu werden. Alle. Und als sie in die gleißende römische Mittagssonne hinaustraten, in Gedanken noch bei den Steinen und zerschmetterten Tafeln, fiel mir völlig unvermittelt ein, wie ein Jahrhundert zuvor, im Jahr zwölfhundertneunzig nach der Hedschra, in der Kleinstadt al-Hisw ein weinendes Kind geboren war, mit einem Gesicht leuchtend wie der Mond; und als die Mutter es sah, sagte sie, diese meine Tochter ist ein Segen Allahs des Barmherzigen; sie ist schön wie der Mond und strahlend wie die Sonne, und der Vater, der Händler Azzizadeh, versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, als er sah, wie schwach seine Frau war, und fragte, wie sollen wir sie nennen, Frau, und sie erwiderte, das Kind soll Amani heißen, und die Leute in al-Hisw werden sie die schöne Amani nennen; und es war, als hätten diese prophetischen Worte sie die letzte Kraft gekostet; und nachdem ihr Mann sich mit Tränen in seinen dunklen Augen vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, schenkte er der Hebamme eine weiße Münze und einen Korb Datteln; dann sah er besorgt seine Frau an, und eine schwarze Wolke senkte sich über seine Gedanken. Die Mutter sagte mit brüchiger Stimme, Azizzadeh: Wenn ich sterbe, bewahre den Goldschmuck zu meinem Gedenken gut auf.
    »Du wirst nicht sterben.«
    »Hör mir zu. Wenn die schöne Amani ihre erste Blutung hatte, sollst du ihn ihr von mir geben. Er soll sie an mich erinnern, an eine Mutter, die nicht genug Kraft hatte, um …« Sie begann zu husten. »Schwör es mir«, beharrte sie.
    »Ich schwöre es dir, Frau.«
    Die Hebamme kam wieder herein und sagte, sie braucht Ruhe. Azizzadeh schüttelte den Kopf und ging zurück in den Laden, weil er das Ausladen einer soeben eingetroffenen Lieferung von Pistazien und Nüssen aus dem Libanon überwachen musste. Aber selbst wenn es in Stein gemeißeltgewesen wäre wie auf den Gesetzestafeln der ungläubigen Söhne Mussas, die sich das auserwählte Volk nannten, hätte Azizzadeh nie geglaubt, welch trauriges Ende der schönen Amani fünfzehn Jahre später beschieden sein würde, gelobt sei der barmherzige Gott.
    »Was denkst du?«
    »Wie bitte?«
    »Siehst du, wie du immer mit deinen Gedanken ganz woanders bist?«
    Wir kehrten mit der Bahn nach Barcelona zurück und kamen mittwochs an: Laura hatte zum ersten Mal in ihrem Leben unentschuldigt zwei Seminarstunden verpasst. Der Institutsleiter, der sicher einiges ahnte, machte ihr keine Vorwürfe. Und ich wusste nach der Operation Rom, dass ich nun endlich mein Leben lang würde studieren können, was mich interessierte, und nur wenig Unterricht geben musste, gerade genug, um in der akademischen Welt präsent zu bleiben. Mir war – von den

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