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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Befriedigung; die merkte man Vater immer sehr an, denn weil ich für gewöhnlich in allem gut war, brüstete er sich gern mit seinem klugen Sohn. Ich versuchte, diese Befriedigung auszunutzen: »Darf ich auf der Storioni spielen?«
    Fèlix Ardèvol sah mich stumm an. Er schob die Standlupe beiseite. Adrià stampfte mit dem Fuß auf.
    »Nur einmal. Bitte, Vater …«
    Wenn der Vater in Zorn geriet, wurde sein Blick furchterregend. Adrià hielt ihm nur wenige Sekunden stand, dann musste er die Augen niederschlagen.
    »Du weißt doch, was Nein heißt, oder nicht? Niet, no, ez, non, ei, nem. Schon mal gehört?«
    »Ei und nem?«
    »Finnisch und Ungarisch.«
    Als Adrià das Arbeitszimmer verließ, drehte er sich noch einmal um und stieß voller Wut eine entsetzliche Drohung aus: »Dann werde ich nicht Aramäisch lernen.«
    »Du wirst tun, was ich dir sage«, versetzte sein Vater kalt und gelassen wie jemand, der weiß, dass immer getan wird, was er sagt. Und dann wandte er sich wieder seinem Manuskript, seinem Aramäisch und seiner Lupe zu.
    An diesem Tag entschloss sich Adrià zu einem Doppelleben. Geheimverstecke hatte er bereits, und nun plante er, seine Tätigkeit im Untergrund auszuweiten. Sein Vorhaben war gewaltig: die Kombination des Tresors herauszufinden und, wenn sein Vater nicht zu Hause war, auf der Storioni zu üben. Es würde niemandem auffallen. Und sie dann so rechtzeitig in den Geigenkasten und den Tresor zurückzulegen, dass er die Spuren seines Verbrechens beseitigen konnte. Damit keiner etwas merkte, würde er Arpeggien spielen und weder dem Sheriff noch dem Arapaho-Häuptling davon erzählen, die auf dem Nachttisch ihr Mittagsschläfchen hielten.

4
    In meiner Erinnerung ist mein Vater immer ein alter Mann gewesen. Meine Mutter dagegen war meine Mutter. Schade, dass sie mich nicht geliebt hat. Adrià wusste nichts weiter, als dass sein Großvater Adrià sie großgezogen hatte, wie es ein früh verwitweter Mann eben tut, der plötzlich mit einem kleinen Kind im Arm dasteht und Ausschau hält nach einer Anleitung, wie er es in sein Leben einbinden soll. Großmutter Vicenta war sehr jung gestorben, als Mutter erst sechs Jahre alt war. Meine Mutter erinnerte sich nur noch vage an sie, und meine Erinnerung besteht lediglich aus zwei Fotografien, den einzigen, die je von ihr gemacht wurden: das Hochzeitsbild aus dem Fotostudio Caria, auf dem beide sehr jung und attraktiv sind, wenn auch übertrieben zurechtgemacht für den Fotografen, und eins von der Großmutter mit meiner Mutter auf dem Arm und einem gebrochenen Lächeln, als wüsste sie, dass sie die Erstkommunion ihrer Tochter nicht mehr erleben würde. Mutter wuchs allein auf. Niemand ist je mit ihr auf den Tibidabo gegangen, und vielleicht kam sie deshalb nicht auf den Gedanken, dass ich wissen wollte, was zum Kuckuck es mit diesen Automaten auf sich hatte, in die man angeblich eine Münze stecken musste, damit sie anfingen, sich zu bewegen und sich zu benehmen wie Menschen.
    Mutter wuchs allein auf. In den Zwanzigerjahren, als es Tote auf den Straßen gab, war Barcelona sepiafarben, und Primo de Riveras Diktatur färbte die Blicke der Einwohner bitter. Großvater Adrià sah ein, dass seine Tochter größer wurde und Dinge wissen sollte, mit denen er sich nicht auskannte, da sie nichts mit Paläographie zu tun hatten, und darum holte er Lolas Tochter ins Haus. Lola war Großmutter Vicentas Wirtschafterin und führte weiterhin den Haushalt von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends, als wäre die Dame des Hauses noch am Leben. Lolas Tochter, zweieinhalb Jahre älter alsmeine Mutter, hieß ebenfalls Lola. Lolas Mutter wurde Lola Gran, die alte Lola, genannt. Die arme Frau starb, ohne die Einführung der Republik noch erleben zu dürfen. Auf dem Totenbett übergab sie alles ihrer Tochter und sagte ihr, kümmere dich um Carme, als gälte es dein Leben, und Lola Xica, die kleine Lola, wich meiner Mutter niemals von der Seite. Bis sie uns verließ. In unserer Familie kommen und gehen die Lolas, wenn jemand stirbt.
    Mit der Hoffnung auf die Republik, der Flucht des Königs, der Ausrufung der Katalanischen Republik und dem Tauziehen mit der Zentralregierung wechselte Barcelonas Farbe von Sepia zu Grau, und die Menschen auf den Straßen vergruben die Hände in den Taschen, wenn ihnen kalt war, aber sie grüßten einander, boten sich Zigaretten an und lächelten womöglich sogar, weil es Hoffnung gab; noch wusste man nicht recht, worauf, aber es war Hoffnung.

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