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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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mehr. Mit Französisch begann ich in einem Sommer, den ich in Perpignan bei der Familie meiner Tante Aurora verbrachte, und dort wechselten sie, sobald es ein wenig hektisch wurde, von ihrem gutturalen Katalanisch ins Französische. Wenn ich Französisch spreche, verfalle ich deshalb bis heute in die Mundart des Midi, die ich mir mein Leben lang mit einem gewissen Stolz bewahrt habe. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war. Deutsch kam später. Wann ich mit Englisch anfing, habe ich vergessen; danach, glaube ich. Nicht, dass ich diese Sprachen lernen wollte. Sie sind mir zugeflogen.
    Wenn ich mich jetzt in meine Kindheit zurückversetze, um dir davon zu erzählen, kommt sie mir vor wie ein endloser, todlangweiliger Sonntagnachmittag, an dem ich faul herumhing, mich heimlich ins Arbeitszimmer zu verdrücken versuchte, dachte, wie viel lustiger es wäre, einen Bruder zu haben, dachte, dass ich das Lesen irgendwann langweilig finden würde, weil mir Enid Blyton allmählich zum Hals heraushing, dachte, dass ich morgen wieder in die Schule musste, was noch schlimmer war. Ich fürchtete mich nicht vor der Schule, auch nicht vor den Lehrern oder meinen Eltern, sondern vor den anderen Kindern. Die größte Angst machten mir die Kinder, weil sie mich ansahen wie einen bunten Hund.
    »Lola Xica?«
    »Was?«
    »Was könnte ich machen?«
    Lola Xica hörte auf, sich die Hände abzutrocknen oder die Lippen zu schminken, und schaute mich an.
    »Nimmst du mich mit?«, fragte Adrià mit flehendem Blick.
    »Nein. Du würdest dich nur langweilen.«
    »Aber mir ist doch hier langweilig.«
    »Hör Radio.«
    »Das ist doof.«
    Lola Xica griff nach ihrem Mantel und verließ das Zimmer, das immer nach Lola Xica roch, und flüsterte mir zu, sag deiner Mutter, sie soll mit dir ins Kino gehen. Und laut sagte sie, auf Wiedersehen, zwinkerte mir zu und ging davon; sie durfte sich am Sonntagnachmittag amüsieren, wo immer sie wollte; ich jedoch war dazu verdammt, durch die Wohnung zu geistern wie eine rastlose Seele.
    »Mutter?«
    »Was.«
    »Ach, nichts.«
    Mutter hob den Blick von ihrer Zeitschrift, trank ihren Kaffee aus und sah mich halb an.
    »Was ist, mein Sohn?«
    Ich hatte Angst zu fragen, ob sie mit mir ins Kino ginge. Große Angst, und bis heute weiß ich nicht, warum. Meine Eltern waren einfach zu ernsthaft.
    »Mir ist langweilig.«
    »Dann lies was. Wenn du willst, üben wir Französisch.«
    »Gehen wir zum Tibidabo.«
    »Na, hör mal, das hättest du dir heute Morgen überlegen sollen.«
    Wir gingen nie in den Vergnügungspark auf dem Tibidabo, weder sonntags morgens noch sonntags nachmittags. Ich kam nur in meiner Phantasie dorthin, wenn meine Freunde mir erzählten, wie es auf dem Tibidabo war, wo es mechanische Apparate gab, geheimnisvolle Maschinen, Aussichtstürme und Autoscooter und … ganz genau wusste ich es nie. Jedenfalls war es ein Ort, den Eltern mit ihren Kindern besuchten. Meine Eltern gingen auch nicht mit mir in den Zoo oder an der Mole spazieren. Sie waren zu spröde. Und sie liebten michnicht. So kommt es mir vor. Im Grunde frage ich mich bis heute, warum sie mich überhaupt in die Welt gesetzt haben.
    »Ich will aber auf den Tibidabo!«
    »Was ist denn das für ein Gezeter?«, beschwerte sich Vater vom Arbeitszimmer aus. »Willst du eine hinter die Ohren?«
    »Ich mag nicht Französisch üben!«
    »Ob du eine hinter die Ohren willst, frage ich!«
    Schwarzer Adler fand das alles sehr ungerecht, und das teilte er dem Sheriff und mir mit. Und um mich nicht zu Tode zu langweilen und vor allem um keine hinter die Ohren zu kriegen, begann ich, auf der Geige Arpeggien zu üben, die den Vorteil haben, dass sie schwer zu greifen sind und deshalb viel Übung brauchen, bis sie gut klingen. Bevor ich Bernat begegnete, fand ich den Klang der Geige immer scheußlich. Mitten in der Übung brach ich ab.
    »Vater, darf ich auf der Storioni spielen?«
    Vater hob den Kopf. Er betrachtete, wie immer, irgendein fremdartiges Papier durch die Leuchtlupe.
    »Nein«, sagte er und wies auf das, was vor ihm auf dem Tisch lag. »Sieh mal, wie schön.«
    Es war ein uraltes Manuskript, ein kurzer Text in einer mir unbekannten Schrift.
    »Was ist das?«
    »Ein Fragment des Markus-Evangeliums.«
    »Und was ist das für eine Sprache?«
    »Aramäisch.«
    Hast du gehört, Schwarzer Adler? Aramäisch! Aramäisch ist eine sehr alte Sprache. Auf Papyrus und Pergament.
    »Darf ich es lernen?«
    »Wenn die Zeit reif ist.« Er sagte es voller

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