Das Schweigen des Sammlers
wir in den Kampf ziehen. Dann werde ich das Böse Schuss für Schuss beseitigen, und der Gedanke daran ist mir nicht zuwider. Hauptsache, ich habe einen Nazi, einen Ustascha oder – möge Gott mir verzeihen – einfach nur einen feindlichen Soldaten im Fadenkreuz. Das Böse bedient sich der Angst undder absoluten Grausamkeit. Unsere Befehlshaber erzählen uns grässliche Dinge über den Feind, wohl um sicherzustellen, dass uns der Zorn packt, und tatsächlich können wir es alle kaum erwarten, ihm endlich gegenüberzustehen. Eines Tages werde ich einen Mann töten, und ich hoffe, dass ich dann keinerlei Reue verspüre. Ich gehöre zu einem Trupp, in dem viele Serben sind, die in kroatischen Dörfern gelebt haben, aber aus Angst vor der Ustascha fliehen mussten; ein paar Slowenen wie ich sind auch darunter, und der eine oder andere der vielen Kroaten, die an die Freiheit glauben. Obwohl ich nur noch Korporal bin, nennen mich einige hier Hauptmann, vielleicht weil ich nicht zu übersehen bin: Ich bin immer noch so groß und kräftig wie früher. Und die Slowenen nennen mich Hochwürden, weil ich wohl eines Tages im Suff zu viel geredet habe; selber schuld. Ich bin entschlossen zu töten, bevor ich getötet werde. Ich habe keinerlei Gewissensbisse oder Skrupel bei dem, was ich tue. Wahrscheinlich werde ich jetzt, da die Deutschen offenbar nach Süden vorrücken, in irgendeinem Scharmützel fallen. Wir wissen alle, dass es bei jeder militärischen Aktion Tote gibt, auch unter unseren Leuten. Hier im Krieg vermeiden wir es, Freundschaften zu schließen: Wir sind wie ein Mann, weil wir alle aufeinander angewiesen sind, und ich beweine den Tod dessen, der gestern beim Frühstück neben mir saß, hatte aber keine Zeit, ihn nach seinem Namen zu fragen. Nun ja, offen gesagt, erfüllt mich der Gedanke zu töten mit Panik. Ich weiß nicht, ob ich es kann. Aber das Böse sind konkrete Personen. Ich hoffe, ich werde tapfer sein und den Abzug betätigen können, ohne dass mir das Herz allzu sehr bebt.
Ich schreibe Dir aus einem slowenischen Ort namens Jesenice. Ich werde eine Briefmarke kaufen, als ob kein Krieg wäre. Und dann werde ich den Brief auf unseren Lastwagen laden, der heute mit Postsäcken bestückt ist, denn solange der Konflikt noch nicht offen ausgebrochen ist, sorgen sie dafür, dass wir uns nützlich machen, damit wir nicht zur Ruhe kommen. Aber diesen Brief werde ich Jančar anvertrauen, dem Einzigen, der dafür sorgen kann, dass er Dicherreicht. Möge der Gott, an den ich nicht mehr glaube, ihm helfen. Bitte schicke Deine Antwort an die übliche Poststelle in Maribor. Wenn ich nicht falle, werde ich sie ungeduldig erwarten. Ich fühle mich so einsam, lieber Ardèvol. Der Tod ist kalt, und mich schaudert es immer öfter. Dein Freund Drago Gradnik, ehemaliger Priester, ehemaliger Theologe, der auf eine brillante Karriere bei der Kurie des Bistums Ljubljana und vielleicht in Rom verzichtet hat. Dein Freund, der jetzt Scharfschütze bei den Partisanen ist und es kaum erwarten kann, das Übel an der Wurzel auszurotten.
Außerdem gab es Antwortbriefe von acht oder zehn Antiquaren, Sammlern oder Antiquitätenhändlern aus ganz Europa auf konkrete Anfragen meines Vaters. Zwei Briefe von einem Doktor Wuang aus Shanghai, der in fehlerhaftem Englisch versicherte, das glückliche Manuskript (ohne nähere Angaben) sei nie in seinem Besitz gewesen, und er wünsche ihm ein langes und glückliches Leben, blühende Geschäfte und glücklichen Reichtum für die persönlichen Beziehungen, die Familie und sein Herz. Ich bezog Doktor Wuangs glückliche Wünsche für die Familie auf mich. Und da war noch ein Haufen anderer Papiere.
An einem grauen, verregneten Nachmittag, als ich sämtliche Prüfungen korrigiert und keine Lust hatte, mich mit Sprachphilosophie zu beschäftigen, beschloss ich, mich zu Hause zu langweilen. Ich würde nicht lesen, sondern einfach gar nichts tun. Im Theater lief kaum was, das Konzertangebot überzeugte mich nicht, und ich war seit so vielen Jahren nicht mehr im Kino gewesen, dass ich keine Lust hatte, mich zu vergewissern, ob die Filme noch in Farbe waren. Also tat ich nichts. Da kam mir der Gedanke, dass dies ein guter Moment sei, endlich einmal Vaters Papiere zu sortieren. Ich legte den Nibelungenring auf und machte mich an die Arbeit. Das Erste, was mir in die Hände fiel, war einer der Briefe von Morlin, der in Rom lebte und anscheinend Priester war, obwohl ich das damals noch nicht sicher wusste.
Weitere Kostenlose Bücher