Das Schweigen des Sammlers
fuhr ich fort: »Sie finden es raus, und dann steckt mein Vater mich ins Gefängnis. Und dich auch. Ich erklär’s dir später. Versprochen.«
Beide legten gleichzeitig auf. Er musste Lola Xica oder seiner Mutter erklären, dass er noch mal zu Bernat musste, um seine Geigenübungen abzuholen.
»Bleib schön auf dem Gehsteig.«
»Klar«, sagte er beleidigt.
Sie trafen sich vor der Konditorei Solà, öffneten ihre Geigenkästen und nahmen den Austausch vor, auf dem Boden, an der Ecke València und Llúria, ohne auf das Rasseln der Straßenbahn zu achten, die sich den Carrer Llúria hinaufquälte. Bernat gab ihm die Storioni zurück und er ihm die Geige der Madame d’Angoulême, und er erzählte ihm, dass sein Vater plötzlich ins Arbeitszimmer gestürmt war und die Tür offen gelassen hatte. Und dass Adrià von seinem Zimmer aus voller Entsetzen gesehen hatte, wie sein Vater den Tresor öffnete, den Geigenkasten herausnahm und den Tresor wieder verschloss, ohne nachzusehen, ob die richtige Geige im Kasten lag, und ich schwöre dir, ich wusste nicht, was ich tun soll, denn wenn ich ihm erzählt hätte, dass du die Geige hast, hätte er mich vom Balkon geworfen, weißt du, und jetzt weiß ich nicht, was passiert, aber …
Bernat sah ihn kühl an: »Das sind alles Lügenmärchen.«
»Nein, ehrlich! In den Geigenkasten habe ich meine Übungsgeige gelegt, damit er nicht misstrauisch wird, wenn er…«
»Du hältst mich wohl für völlig bescheuert.«
»Ich schwör’s!« Adrià war verzweifelt.
»Du bist ein Schisser und wortbrüchig noch dazu.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ohnmächtig sah ich meinen wütenden Freund an, der mich schon um eine Handbreit überragte. Er kam mir vor wie ein rachsüchtiger Riese. Aber vor Vater hatte ich noch mehr Angst. Der Riese öffnete wieder den Mund: »Und glaubst du nicht, dass er Fragen stellen wird, wenn er zurückkommt und die Storioni sieht?«
»Und was soll ich sonst machen?«
»Lass uns abhauen. Nach Amerika.«
Diese spontane Solidarität wiederum gefiel mir an Bernat. Wir beide nach Amerika abhauen, was für eine großartige Idee. Aber sie flohen nicht nach Amerika, und Adrià hatte keine Zeit, seinen Freund zu fragen, sag mal, Bernat, wie spielt es sich denn auf der Storioni, merkst du den Unterschied, lohnt es sich, eine historische Geige zu haben? Er erfuhr auch nicht, ob seine Eltern etwas gemerkt hatten oder … Er sagte nur, der bringt mich um, ehrlich, gib sie mir zurück. Bernat zog wortlos ab, und ihm war anzusehen, dass er ihm diese seltsame Geschichte nicht abnahm. Dabei fing sie gerade erst an, kompliziert zu werden.
Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Sechs eins fünf vier zwei acht. Adrià legte die Storioni in den Tresor zurück, schloss ihn wieder, verwischte alle Spuren seines heimlichen Tuns und ging hinaus. In seinem Zimmer schauten Carson und Schwarzer Adler in die andere Richtung, als hätten sie nichts gesehen. Vermutlich waren auch sie mit der Situation überfordert. Und sein Geigenkasten war leer, und um die Sache noch schlimmer zu machen, kam Lola Xica zweimal herein und sagte, deine Mutter fragt, ob du heute gar nicht übst. Beim zweiten Mal sagte er, ich habe da eine Schwiele am Finger … Siehst du? Damit kann man nicht spielen.
»Zeig mal den Finger her«, sagte die Mutter, die unerwartet ins Zimmer kam, als er gerade die drei Sammelbilder einklebte, die er am Sonntag auf dem Mercat de Sant Antoni erstanden hatte.
»Ich sehe nichts«, sagte sie unbarmherzig.
»Aber mir tut’s weh.«
Die Mutter sah sich forschend um, als könne sie nicht glauben, dass er sie nicht belog, und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Zum Glück hatte sie den Geigenkasten nicht geöffnet. Jetzt galt es, den Höllenkrach abzuwarten, den sein Vater schlagen würde.
Mea culpa. Ich bin schuld an seinem Tod. Auch wenn dieser Voigt ihn sowieso umgebracht hätte. Das Taxi hatte ihn bei Kilometer drei abgesetzt und war nach Barcelona zurückgefahren. Jetzt im Winter wurde es früh dunkel. Allein auf der Landstraße. Eine Falle, ein Hinterhalt. Hast du das nicht gesehen, Vater? Vielleicht hieltest du das Ganze nur für einen schlechten Scherz. Fèlix Ardèvol warf einen letzten Blick auf das unter ihm liegende Barcelona. Motorenlärm. Ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern kam vom Tibidabo herunter. Es hielt vor ihm an, und Signor Falegnami stieg aus, dünner, kahler, mit derselben großen Nase und leuchtenden Augen. Bei ihm waren
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