Das Schweigen des Sammlers
aber Du sollst wissen, dass ich ermordet wurde und mein Mörder Aribert Voigt heißt, ein alter Naziarzt, der anGräueltaten beteiligt war, deren Schilderung ich Dir ersparen will. Er will seine Storioni wiederhaben, die ich ihm einmal abgeluchst habe. Wie ein Vogel, der sich verletzt stellt, um das Raubtier von seinen Jungen wegzulocken, verlasse ich also jetzt das Haus, damit sein Zorn nicht Euch trifft. Such nicht nach dem Mörder. Wenn Du diese Zeilen liest, ist er sicher schon lange tot. Such auch nicht nach der Geige; es lohnt sich nicht. Und such nicht das, was ich in vielen Objekten meiner Sammlung gefunden habe: die Befriedigung, etwas Seltenes zu besitzen. Such es nicht, denn diese Suche frisst Dich auf, sie ist eine unersättliche Gier, die Dich zu Dingen treibt, von denen Du später wünschst, Du hättest sie nicht getan. Wenn Deine Mutter noch am Leben ist, verschweig ihr das, was ich Dir hier berichte. Leb wohl. Und darunter stand der Nachtrag, der mein Unglück gewesen ist: Aribert Voigt hat mich getötet. Ich habe Vial seinen blutbefleckten Klauen entrissen. Ich weiß, dass er aus der Haft entlassen wurde und mich finden und töten wird. Voigt ist das Böse. Auch ich bin das Böse, aber Voigt ist das absolute Böse. Sollte ich eines gewaltsamen Todes sterben, glaub denen nicht, die sagen, es sei ein Unfall gewesen. Voigt. Ich will nicht, dass Du Rache nimmst, mein Sohn. Du wirst es sowieso nicht können, denn wenn Du diese Zeilen liest – falls Du sie überhaupt liest –, wird Voigt schon seit Jahren in der Hölle schmoren. Wenn ich ermordet wurde, bedeutet das, dass Vial, unsere Storioni, aus unserem Haus verschwunden ist. Und sollte aus diesem Grund in der Öffentlichkeit über Voigt oder unsere Geige gesprochen werden, musst Du wissen, dass ich nachgeforscht habe, wem das Instrument gehörte, bevor Voigt es sich nahm: Es gehörte einer Belgierin namens Netje de Boeck. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass es mit Voigt ein böses Ende nimmt und dass irgendjemand – ich weiß nicht wer – dafür sorgen wird, dass er bis zu seinem Tod keine Nacht ruhig schlafen kann. Aber ich will nicht, dass du derjenige bist, denn ich will Dich nicht mit meinen schmutzigen Geschichten besudeln. Und wie du mich besudelt hast, Vater, dachte Adrià, denn du hast mir das Familienübel vererbt, das Kribbeln in den Fingern, wenn ichein Objekt begehre. Der aramäische Text endete mit einem lakonischen, leb wohl, Sohn. Das waren wahrscheinlich die letzten Worte, die er je geschrieben hat. Und nicht ein Wort wie, ich liebe dich, mein Sohn. Vielleicht hatte er ihn nicht geliebt.
Der Plattenteller drehte sich lautlos, während Adrià verwirrt und ein wenig verwundert darüber war, wie wenig es ihn verwunderte, dass sein Vater das Bild bestätigte, das er sich von ihm gemacht hatte. Lange saß er einfach nur da, bevor er anfing, sich Fragen zu stellen, wie zum Beispiel, warum sein Vater die Information, dass ihn ein Nazi wie dieser Voigt auf dem Gewissen hatte, nicht hatte bekannt werden lassen wollen. Wollte er vielleicht nicht, dass dadurch andere Geschichten ans Licht kamen? Ich fürchte, genau das war der Grund. Weißt du, wie ich mich fühlte, Sara? Wie ein Idiot. Da hatte ich mir immer eingebildet, ich hätte mein Leben gegen die Erwartungen der anderen gelebt, und nun musste ich feststellen, dass ich genau das getan hatte, was mein autoritärer Vater von allem Anfang an verfügt hatte. Zur musikalischen Untermalung dieses seltsamen Gefühls legte ich noch einmal die Götterdämmerung auf, und die drei Nornen, die Töchter Erdas, sammelten sich um Brünnhildes Felsen und spannen den Schicksalsfaden, wie mein Vater beharrlich den meinen gesponnen hatte, ohne mich oder meine Mutter nach unserer Meinung zu fragen. Aber einer der Schicksalsfäden, die mein Vater mit Hinblick auf die Zeit nach seinem Tod gesponnen hatte, war unerwartet gekappt worden und bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Ich war schuld an seinem gewaltsamen Tod.
»He, du hast gesagt, du lässt sie mir für drei Tage!« Noch nie hatte ich Bernat so empört erlebt. »Und jetzt habe ich sie erst seit drei Stunden!«
»Es tut mir leid, ehrlich. Aber ich brauche sie jetzt, sofort, oder die bringen mich um, ich schwör’s.«
»Du hältst dein Wort nicht. Ich habe dir das Vibrato beigebracht.«
»Das Vibrato kann man nicht lernen, man muss es finden«,entgegnete ich verzweifelt. Mit zwölf war ich nicht sehr geschickt im Argumentieren. Ängstlich
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