Das Schweigen des Sammlers
nicht das kleinste Fitzelchen Seele darin gefunden?«
»Nicht das kleinste Fitzelchen. Aber das weißt du ja schon!«
»Du bist bloß verbittert, weil deine Sachen verrissen worden sind. Dabei gefallen sie mir, dass du’s nur weißt.«
Nach dieser Grundsatzerklärung verschonte Bernat Adrià lange Zeit mit seinen Texten. Er hatte inzwischen drei Erzählbände veröffentlicht, die die katalanische Literaturwelt nicht aufgerüttelt hatten – und wahrscheinlich auch keinen einzigen Leser. Und anstatt zu versuchen, im Orchester glücklich zu sein, trachtete er danach, sich das Leben ein wenig schwer zu machen. Und ich sitze hier und doziere darüber, wie man glücklich wird. Als wüsste ich darüber Bescheid. Als wäre das Glück eine Pflichtveranstaltung.
Das Seminar war normal bis gut verlaufen. Ich hatte über Musik zu Zeiten von Leibniz gesprochen, hatte meine Studenten in Leibniz’ Hannover versetzt und ihnen Musik von Buxtehude vorgespielt, genauer gesagt, die Variationen für Cembalo über die Arie »La Capricciosa« (BuxWV 250), und ich bat sie zu überlegen, ob es sie an ein späteres (nicht sehr viel späteres) Werk eines bekannteren Musikers erinnerte. Stille. Adrià stand auf, spulte die Kassette zurück und ließ sie noch eine Minute lang Trevor Pinnocks Cembalospiel hören.
»Wisst Ihr, welches Werk ich meine?« Stille. »Nein?«
Ein paar Studenten sahen aus dem Fenster, andere starrten auf ihre Aufzeichnungen. Eine junge Frau schüttelte den Kopf. Um ihnen auf die Sprünge zu helfen, erzählte er ihnen vom Lübeck jener Zeit, dann fragte er wieder, nein? Schließlich gab er auf und sagte, na gut, dann nennt mir nicht das Werk, sondern den Verfasser. Da sagte ein in der Mitte sitzender Student, den er nie zuvor gesehen hatte, ohne den Arm zu heben, Johann Sebastian Bach?, genau so, mit einem Fragezeichen, und Adrià rief, bravo! Und das Werk ist ähnlich aufgebaut. Ein Thema – ich habe es euch zweimal vorgespielt –, das an die Entwicklung einer Variation erinnert … Wisst ihr was? Bis Mittwoch versucht ihr herauszufinden, welches Werk ich meine. Und hört es euch möglichst ein paar Mal an.
»Und wenn wir nicht herausfinden, was es ist?« Das war die junge Frau, die zuvor den Kopf geschüttelt hatte.
»Es ist die Nummer 988 im Bach-Werke-Verzeichnis. Zufrieden? Oder braucht ihr noch mehr Hilfe?«
Obwohl ich also meine Ansprüche herunterschrauben musste, hätten die Seminare damals meinetwegen ruhig fünf Stunden dauern können. Natürlich hätte ich mir auch gewünscht, dass die Studenten lebhaftes Interesse an allem bekundet und mir Fragen gestellt hätten, für deren Beantwortung ich mir Zeit bis zur nächsten Stunde hätte ausbedingen müssen. Aber Adrià musste sich mit dem zufriedengeben, was er hatte. Die Studenten gingen die Stufen hinunter zum Ausgang. Alle bis auf denjenigen, der die Antwort erraten hatte und jetzt immer noch in der Bank saß. Während Adrià denKassettenrekorder wegräumte, sagte er, ich habe den Eindruck, dich habe ich hier noch nicht oft gesehen. Als er keine Antwort bekam, hob er den Kopf und sah, dass der andere stumm lächelte.
»Wie heißt du?«
»Ich bin kein Student von dir.«
»Und was machst du dann hier?«
»Ich höre dir zu. Kennst du mich nicht?«
Er stand auf und ging, ohne Mappe, ohne Aufzeichnungen, nach vorne zum Lehrerpult. Adrià hatte schon alle Papiere in seiner Mappe verstaut, jetzt stopfte er noch den Kassettenrekorder dazu.
»Nein. Sollte ich das?«
»Na ja … Technisch gesehen, bist du mein Onkel.«
»Ich? Dein Onkel?«
»Tito Carbonell«, sagte der junge Mann und streckte ihm die Hand hin. »Wir haben uns mal in Rom bei meiner Mutter zu Hause gesehen, als du ihr den Laden verkauft hast.«
Jetzt fiel es ihm wieder ein: der stille Jugendliche mit den buschigen Augenbrauen, der hinter Türen lauschte und nun zu einem gutaussehenden, selbstsicher wirkenden jungen Mann herangewachsen war.
Adrià fragte ihn, wie es seiner Mutter gehe, er sagte, gut, sie lässt dich grüßen, und damit stockte das Gespräch. Also fragte er. »Warum bist du in dieses Seminar gekommen?«
»Ich wollte dich besser kennenlernen, bevor ich dir mein Angebot unterbreite.«
»Welches Angebot?«
Tito vergewisserte sich, dass außer ihnen niemand im Klassenraum war, dann sagte er, ich möchte dir die Storioni abkaufen.
Adrià sah ihn an, zu verblüfft, um gleich zu reagieren.
»Die steht nicht zum Verkauf«, sagte er schließlich.
»Wenn du das Angebot
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