Das Schweigen des Sammlers
Vaters. Dann waren da fünf äußerst seltsame, in tadellosem Latein verfasste und mit schwer verständlichen Anspielungen gespickte Briefe von einem Priester namens Gradnik aus Ljubljana, der immer wieder von der unerträglichen Glaubenskrise schrieb, die ihn seit Jahren umtrieb. Offenbar war er ein Kommilitone meines Vaters an der Gregoriana gewesen und bat ihn nun dringendum seine Meinung in theologischen Fragen. Der letzte Brief klang allerdings anders. Er war im Herbst 1941 in Jesenice abgeschickt worden und begann mit den Worten, vermutlich wird Dich dieser Brief nie erreichen, aber es drängt mich trotzdem, Dir zu schreiben; Du bist der Einzige, der mir immer geantwortet hat, sogar in meiner einsamsten Zeit, als ich bei Schnee und Eis in einem Dorf bei Kamnik, dessen Namen ich für immer zu vergessen versuche, Pfarrer und Totengräber war. Vielleicht ist dies mein letzter Brief, denn ich kann jeden Augenblick sterben. Schon vor einem Jahr habe ich die Soutane an den Nagel gehängt. Schuld daran ist nicht etwa eine Frau, sondern schlicht und ergreifend die Tatsache, dass ich meinen Glauben verloren habe. Stück für Stück ist er mir unaufhaltsam entglitten. Es ist meine Schuld: confiteor. Seit meinem letzten Brief und Deinen aufmunternden Worten darauf, die mir sehr gut getan haben, kann ich objektiver darüber reden. Nach und nach ist mir klar geworden, dass das, was ich tat, vollkommen sinnlos war. Du musstest Dich zwischen einer unwiderstehlichen Liebe und einem Leben als Priester entscheiden. Mir ist keine Frau dazwischengekommen, die mir den Kopf verdreht hätte. Alle meine Probleme sind rein gedanklicher Art. Ein Jahr liegt meine große Entscheidung nun zurück, und heute, da in ganz Europa Krieg herrscht, stelle ich fest, dass ich recht hatte. Alles ist sinnlos, Gott existiert nicht, und die Menschen müssen den Verwüstungen der Zeit widerstehen, so gut sie können. Stell Dir vor, lieber Freund, ich bin mir so sicher, richtig gehandelt zu haben, dass ich vor ein paar Wochen konsequent den letzten Schritt gegangen bin und mich freiwillig bei der Volksarmee gemeldet habe. Man könnte sagen, ich habe die Soutane gegen das Gewehr eingetauscht. Ich bin nützlicher, indem ich versuche, mein Volk vor dem Bösen zu schützen. Meine Zweifel sind verflogen, Freund Ardèvol. Seit Jahren habe ich vom Bösen geredet, dem Übeltäter, dem Teufel … und doch konnte ich die Natur des Bösen nicht erfassen und habe versucht, lange Reden zu halten über das schuldhaft Böse, das Leid verursachende Böse, das Malum morale, das Malumphysicum, das absolute und das relative Böse und vor allem über die wahre Ursache des Bösen. Und nach all diesen Forschungen und Überlegungen musste ich mir dann die alten Betschwestern meiner Gemeinde anhören, die die grässliche Sünde beichteten, das Fastengebot zwischen Mitternacht und Kommunion nicht streng genug gehalten zu haben. Mein Gott, sagte eine Stimme in meinem Inneren, das kann nicht sein, Drago, das kann nicht der Sinn deines Lebens sein, wenn du der Menschheit weiterhin nützlich sein willst. Das alles wurde mir bewusst, als eine Mutter mich fragte, wie kann Gott zulassen, dass meine kleine Tochter unter furchtbaren Qualen stirbt, Hochwürden; wieso tut Gott nichts, um das zu verhindern? Und ich hatte keine Antwort und ertappte mich dabei, wie ich ihr eine Predigt über die wahre Ursache des Bösen hielt, bis ich plötzlich beschämt verstummte, sie um Verzeihung bat und ihr gestand, dass ich es nicht wusste. Ich sagte ihr, ich weiß es nicht, Andreja, verzeih mir, aber ich weiß es nicht. Vielleicht findest Du es lächerlich, Freund Ardèvol, Du, der Du mir lange Briefe schreibst, in denen Du den egoistischen Zynismus verteidigst, dem Du Dich verschrieben hast, wie Du sagst. Die Zweifel ersticken mich, weil ich angesichts der Tränen keine Antwort fand; aber das ist jetzt vorbei. Jetzt weiß ich, wo das Böse zu finden ist. Sogar das absolute Böse. Es heißt Himmler. Es heißt Hitler. Es heißt Pavelić. Es heißt Luburić und seine makabre Erfindung Jasenovac. Es heißt Schutzstaffel und Abwehr. Der Krieg bringt die bestialische Seite der menschlichen Natur zum Vorschein. Aber das Böse gab es schon vor dem Krieg, und nicht irgendwelche Hirngespinste sind dafür verantwortlich, sondern die Menschen. Deshalb ist seit ein paar Wochen ein Gewehr mit Zielfernrohr mein treuester Begleiter, weil der Kommandant festgestellt hat, dass ich ein guter Schütze bin. Bald werden
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