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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Plötzlich bekam ich Lust, mehr über Vaters Leben zu erfahren, ohne Grund, nicht etwa, weil ich gedacht hätte, so etwas über seinen Tod zu erfahren, sondern weil ich jedes Mal, wenn ich in seinen Papieren kramte, etwas entdeckte, was mich überraschte und berührte. Vielleicht schreibe ich dir deshalb seit Wochen unermüdlich, wie ich es noch nie im Leben getan habe. Wie sehr man doch merkt, dass mir der Hund, der mich jagt, dicht auf den Fersen ist. Vielleicht sammle ich deshalb Fetzen meiner Erinnerung, die ich, wenn es so weit ist, nur schwer so werde sortieren können, dass man sie vorzeigen kann. Jedenfalls bekam ich Lust, weiter die Papiere durchzusehen. Zwei Stunden lang – wir waren noch beim Vorabend (allerdings schon an der Stelle, an der der wütende Wotan mit Loge den Ring stiehlt und der Nibelunge jeden verflucht, der ihn sich an den Finger steckt) – sortierte ich die Korrespondenz und vermutlich von meinem Vater angefertigte Skizzen diverser Objekte. Weitere anderthalb Stunden später, als Brünnhilde Wotan den Gehorsam verweigert und der armen Sieglinde zur Flucht verhilft, fand ich zwei vergilbte Blätter in dem alten holländischen Format, das heute nicht mehr in Gebrauch ist. Sie waren mit einem mit Tinte geschriebenen hebräischen Text bedeckt, in dem ich die Handschrift meines Vaters erkannte. Ich vermutete, dass es um eine der tausend Angelegenheiten ging, für die er sich interessiert hatte, und als ich zu lesen begann, fürchtete ich erst, es läge an meinem eingerosteten Hebräisch, dass ich ihn nicht richtig verstand. Nach fünf fruchtlosen Minuten, in denen ich vergeblich mehrere Wörterbücher zu Rate gezogen hatte, erkannte ich zu meiner Überraschung, dass der Text gar nicht in Hebräisch geschrieben war, sondern in Aramäisch, allerdings verschlüsselt, in hebräischer Schrift. Anfangs war es ungewohnt, weil ich eher an das Aramäische in syrischer Schrift gewöhnt bin, aber wenn man sich anstrengte, ging es. Eine Minute später hatte ich zweierlei festgestellt: Erstens, dass Frau Dr. Gombreny ganze Arbeit geleistet hatte, weil ich das Aramäische gut verstand; und zweitens, dass es sich keineswegs um die Abschrift eines alten Textes handelte, sondern um einen Brief meines Vaters an mich. An mich! Mein Vater, der mich zu Lebzeiten vielleicht fünfzig Mal direkt angesprochen hatte, und zwar fast immer, um mir zusagen, mach nicht so einen Krach, verdammt noch mal, hatte seinem unbeachteten Sohn einen Brief geschrieben. Und ich musste feststellen, dass mein Vater das Aramäische viel besser beherrschte als ich. Als ich ihn zu Ende gelesen hatte, erschlug Siegfried, Sieglindes furchtloser Sohn, mit der Grausamkeit des Helden den Nibelungen Mime, der ihn aufgezogen hatte und von dem er sich verraten glaubte. Der Wald der Helden, der Brief auf Aramäisch, alles schrie nach Blut. Ich war von Blut umgeben. Adrià saß über den Text gebeugt, ohne ihn zu sehen, dachte über all das Schreckliche nach, das er gelesen hatte, und ließ die Schallplatte eine gute halbe Stunde lang auf dem Plattenteller kreisen, ohne sie umzudrehen. Als ob die Figuren endlos die gleichen Bewegungen wiederholten, nur vom leichten Kratzen der Nadel begleitet. Wie Siegfried war er von der Entdeckung, die er gemacht hatte, überwältigt. Denn in dem Brief stand, Adrià, mein geliebter Sohn. Ich vertraue Dir dieses Geheimnis in der ungewissen Hoffnung an, dass Du irgendwann einmal, viele Jahre nach dem heutigen Tag, erfahren wirst, was geschehen ist. Wahrscheinlich bleibt dieser Brief für immer unter den Papieren begraben, die nach und nach den gierigen Silberfischchen zum Opfer fallen werden, mit denen sich jeder herumplagen muss, der eine Bibliothek mit alten Büchern besitzt. Wenn Du diese Zeilen liest, heißt das, dass Du meine Papiere aufbewahrt und das getan hast, was ich für Dich verfügt habe, nämlich Hebräisch und Aramäisch gelernt. Und wenn Du Hebräisch und Aramäisch gelernt hast, mein Sohn, dann bist Du ein Gelehrter geworden, wie ich es mir immer erträumt habe. Und ich habe mich gegen Deine Mutter durchgesetzt, die aus Dir einen dekadenten Geiger machen will (auf Aramäisch stand da eigentlich einen dekadenten Rabecspieler, aber die Spitze meines Vaters verstand man auch so). Eines musst Du wissen: Wenn Du diese Zeilen liest, bedeutet das, dass ich es nicht mehr nach Hause geschafft habe, um sie zu vernichten. Ich weiß nicht, ob es von offizieller Seite heißen wird, es sei ein Unfall gewesen,

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