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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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seinen Knien lindern. Die anderen starben vermutlich im Bewusstsein, dass es endlich vorbei war. Die Kleine mit dem schmutzigen Lappen war die Einzige, die ihn hellwach und mit anklagendem Blick empfing. Auch sie fragte, warum. Aber sie fragte in einem anderen Ton. Mit ihren sieben Jahren war sie imstande zu fragen, wozu das alles gut sei. Sie fragte, warum, und sah ihm in die Augen. Wochenlange Schmerzen hatten ihre Angst besiegt, und im Bett sitzend öffnete sie ihr Hemd, damit Barabbas die richtige Einstichstelle fand. Doch sah sie Doktor Budden dabei an und fragte, warum. Diesmal war er es, der unwillkürlich den Blick abwenden musste. Warum. Waarom. Sie wiederholte es, bis derTod ihre Lippen dunkel färbte. Ein Kind von sieben Jahren, das angesichts des Todes nicht verzagt, muss sehr verzweifelt und erschöpft sein. Anders lässt sich eine solche Gefasstheit nicht erklären. Waarom.
    Nach den Vorbereitungen für die Flucht des Arztes und mehrerer anderer Offiziere aus dem Lager, die für den nächsten Morgen geplant war, schlief Doktor Budden zum ersten Mal seit vielen Monaten schlecht. Schuld war ein Waarom. Und schmale, dunkler werdende Lippen. Und Oberscharführer Barabbas setzte ihm lächelnd eine Spritze, durch die Uniform hindurch, und er lächelte mit schwärzlichen Lippen über einen Tod, der letztlich nicht eintrat, weil der Albtraum weiterging.
    Lautlos, ohne dass der Lagerkommandant Höß etwas bemerkte, machten sich im Morgengrauen etwa zwanzig Offiziere und Unteroffiziere, unter ihnen Budden und Barabbas, auf den Weg irgendwohin, vor allem weit weg von Birkenau.
    Barabbas und Budden fühlten sich sicher, denn in dem allgemeinen Chaos war es ihnen gelungen, sich weit genug von ihrer Arbeit und der Roten Armee zu entfernen, um sich vor den Engländern als Soldaten von der ukrainischen Front ausgeben zu können, die sich nichts sehnlicher wünschten, als dass der Krieg vorbei wäre und sie endlich zu Frau und Kindern zurückkehren dürften, sofern diese noch am Leben wären. Doktor Budden hatte sich in Tilbert Hänsch verwandelt, ja, aus Stuttgart, Herr Hauptmann, und besaß keinen Ausweis mehr, der dies belegt hätte, weil der in den Wirren der Kapitulation, nun ja … Ich will nach Hause, Herr Hauptmann.
    »Wofür halten Sie uns, Doktor Konrad Budden?«, erwiderte der für das Verhör zuständige Offizier, als Budden seine Ansprache beendet hatte.
    Doktor Budden starrte ihn sprachlos an. Mit ungläubiger Miene brachte er nichts weiter heraus als: »Was?«
    »Wofür Sie uns halten«, beharrte der britische Leutnant mit dem grauenhaften Akzent.
    »Was sagen Sie? Wie haben Sie mich genannt?«
    »Doktor Budden.«
    »Aber …«
    »Sie waren nie an der Front, Doktor Budden, und an der Ostfront schon gar nicht.«
    »Warum nennen Sie mich Doktor?«
    Der britische Offizier schlug eine Mappe auf, die vor ihm auf dem Tisch lag. Buddens Wehrmachtsakte. Diese verfluchte Manie, alles zu dokumentieren und zu archivieren. Der auf dem Foto war etwas jünger, aber eindeutig er, mit diesem Blick, der einen nicht ansah, sondern durchbohrte. Doktor Konrad Budden, Chirurg, 1938 promoviert. Ah, und ausgebildeter Pianist. Alle Achtung, Herr Doktor.
    »Das ist ein Irrtum.«
    »Ja, Doktor. Ein großer Irrtum.«
    Erst im dritten der fünf Jahre Haft, zu denen er verurteilt worden war, weil ihn wundersamerweise niemand mit Auschwitz-Birkenau in Verbindung gebracht hatte, begann Doktor Budden zu weinen. Er war einer der wenigen Gefangenen, die bis dahin keinen Besuch empfangen hatten, denn seine Eltern waren bei der Bombardierung Stuttgarts ums Leben gekommen, und zu anderen mehr oder weniger entfernten Verwandten wollte er keinen Kontakt. Schon gar nicht zu denen aus Bebenhausen. Er brauchte keinen Besuch. Den ganzen Tag starrte er auf die Wand, vor allem, als er immer häufiger nächtelang keinen Schlaf fand. Eines nach dem anderen sah er wieder die Gesichter der Patienten vor sich, die durch seine Hände gegangen waren, während er in der medizinischen Forschungsabteilung von Birkenau Doktor Voigt unterstellt war, und jedes stieß ihm auf wie ein Schluck saurer Milch. Er machte es sich zur Aufgabe, sich so vieler Gesichter, Seufzer, Tränen und Schreckensschreie wie möglich zu erinnern, und saß stundenlang still vor dem leeren Tisch.
    »Wie? Was?«
    »Ihre Cousine Herta Landau möchte Sie immer noch besuchen.«
    »Ich habe gesagt, ich will keinen Besuch.«
    »Sie sitzt vor dem Gefängnis und ist in den Hungerstreik

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