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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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getreten, damit Sie sie empfangen.«
    »Ich will niemanden sehen.«
    »Diesmal wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben. Wir wollen kein öffentliches Aufsehen, und Ihr Name macht schon Schlagzeilen.«
    »Sie können mich nicht zwingen.«
    »Und ob. Ihr zwei da, schnappt ihn euch, damit die Irre da draußen endlich Ruhe gibt.«
    Sie setzten Doktor Budden in einen Besucherraum und ließen ihn dort mit drei todernsten australischen Soldaten zurück. Der Doktor musste gut zehn Minuten warten, bis sich die Tür öffnete und eine stark gealterte Herta eingelassen wurde, die mit zögernden Schritten auf seinen Tisch zukam. Budden senkte den Blick. Als nur noch die schmale Tischplatte zwischen ihnen war, blieb die Frau stehen. Sie setzte sich nicht. Sie sagte lediglich, das ist für dich von Lothar und mir. Budden hob den Kopf, und in diesem Moment beugte sich Herta Landau vor und spuckte ihm ins Gesicht. Als sie ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrtmachte und beschwingt hinausging, wirkte sie um Jahre verjüngt. Doktor Budden rührte sich nicht, um die Spucke abzuwischen. Eine Weile starrte er ins Leere, bis er eine raue Stimme sagen hörte, schafft ihn weg, was in seinen Ohren klang wie: schafft mir dieses Aas aus den Augen. Und wieder war er allein in seiner Zelle, und wieder wurde er von den Erinnerungen an seine Patienten heimgesucht und hatte den Geschmack saurer Milch im Mund. An alle Patienten. Angefangen bei den dreizehn, an denen sie die Auswirkungen plötzlicher Dekompression studiert hatten, über die große Zahl derer, die Transplantate erhalten hatten und an Infektionen gestorben waren, bis zu der Gruppe von Kindern, die den Beweis für die Heilkraft der Bauer-Salbe erbringen sollten. Das Gesicht, das er am häufigsten vor sich sah, war das der kleinen Flämin, die waarom gesagt hatte, weil sie nicht verstand, warum sie solche Schmerzen erleiden musste. Und fortan machte er es sich zur Gewohnheit, wie in einer liturgischen Handlung vorsich auf dem leeren Tisch einen schmutzigen Lappen auszubreiten, der eine schief geschnittene, ausgefranste Kante und ein kaum noch erkennbares blau-weißes Karomuster hatte, und unverwandt darauf zu starren, ohne einen Lidschlag, bis er es nicht mehr aushielt. Und die Leere in seinem Inneren war so gewaltig, dass er noch immer nicht weinen konnte.
    Nachdem er diese Zeremonie, Tag für Tag, morgens und abends, mehrere Monate lang wiederholt hatte – es war im dritten Gefängnisjahr –, wurde sein Gewissen allmählich mürbe. Außer der Erinnerung an das Stöhnen, die Schreie, das Schluchzen und die Tränen der Panik kam allmählich auch die an den Geruch jedes Einzelnen zurück. Und irgendwann konnte er nicht mehr schlafen. Wie die fünf Letten, die sie zweiundzwanzig Tage lang wach gehalten hatten, bis ihre Augen durch die ständige Lichteinstrahlung geborsten waren und sie vor Entkräftung starben. Und eines Nachts begannen seine Tränen zu fließen. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr, seit Sigrids verächtlicher Abfuhr auf seinen Vorschlag, miteinander auszugehen, hatte Konrad Budden nicht mehr geweint. Die Tränen kamen langsam, zähflüssig, als zauderten sie nach so langer Zeit. Und eine Stunde später tropften sie noch immer langsam. Erst als draußen die Morgenröte den dunklen Himmel rosig färbte, brach er in haltloses Schluchzen aus, während seine Seele klagte, waarom, wie ist das möglich, warum sind mir angesichts dieser traurigen Augen nicht die Tränen gekommen, warum, mein Gott.
    »Kunstwerke sind von einer unendlichen Einsamkeit, hat Rilke gesagt.«
    Die siebenunddreißig Schüler sahen ihn stumm an. Professor Adrià Ardèvol stand auf, verließ das Podium und stieg langsam einige Stufen zwischen den Stuhlreihen hinauf. Fällt dazu niemandem etwas ein?, fragte er.
    Nein. Niemandem fiel dazu etwas ein. Meinen Studenten fällt dazu nichts ein, wenn ich sie mit diesem »Kunstwerke sind von einer unendlichen Einsamkeit« piesacke. Und wenn ich ihnen sagte, Kunstwerke seien Rätsel, die sich der Vernunft entziehen?
    »Kunstwerke sind Rätsel, die sich der Vernunft entziehen.«
    Er war auf seiner Wanderung durch den Hörsaal schon auf halber Höhe angelangt. Einige Köpfe wandten sich zu ihm um. Zehn Jahre nach Francos Tod hatten die Studenten den Drang verloren, sich undiszipliniert und vergebens, aber leidenschaftlich in alles einzumischen.
    »Die verborgene Wirklichkeit der Dinge und des Lebens kann nur mit Hilfe des Kunstwerks annähernd entschlüsselt

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