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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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werden, selbst wenn wir dieses nicht begreifen.« Er sah sie an und drehte sich dabei um sich selbst, um alle mit dem Blick zu erfassen. »In einem rätselhaften Gedicht schwingt der Widerhall des ungelösten Konflikts.«
    Eine Hand hob sich. Das Mädchen mit dem kurzgeschnittenen Haar. Eine Wortmeldung! Womöglich wollte sie fragen, ob das unverständliche Zeug, das er da redete, für die Prüfung morgen gebraucht würde; vielleicht wollte sie die Erlaubnis, pinkeln zu gehen. Vielleicht würde sie fragen, ob wir mit Hilfe der Kunst alles das begreifen könnten, worauf der Mensch bei seiner Konstruktion einer objektiven Welt verzichten musste.
    Er wies auf das Mädchen mit dem kurzen Haar und sagte, ja, bitte.
    »Ihr Name wird für alle Zeit als einer derjenigen in Erinnerung bleiben, die das Grauen über die Menschheit gebracht haben.« Das sagte er in einem Englisch, wie man es in Manchester spricht, und mit amtlichem Tonfall, ohne sich darum zu scheren, ob der andere ihn verstanden hatte. Mit einem schmutzigen Finger zeigte er auf eine Stelle des Dokuments. Budden zog die Brauen hoch.
    »Hier Unterschrift«, drängte der Sergeant in ungefährem Deutsch und tippte mehrmals auf die fragliche Stelle.
    Budden gehorchte und gab ihm das Dokument zurück.
    »Sie sind frei.«
    Frei. Kaum aus dem Gefängnis entlassen, war er zum zweiten Mal auf der Flucht, auch diesmal ohne festes Ziel. Zufällig machte er in einem froststarren Dörfchen an der Ostsee Station, wo er nahe einer bescheidenen Kartause Obdach fand.Er verbrachte den Winter damit, ins Kaminfeuer des stillen Hauses zu schauen, wo man ihn aufgenommen hatte, und bot seinen Wirtsleuten und im ganzen Dorf seine Dienste als Lastenträger an, um zu überleben. Er sprach wenig, weil er nicht als gebildeter Mann erkannt werden wollte, und bemühte sich, seine Chirurgen- und Pianistenhände abzuhärten. In dem Haus, in dem er wohnte, wurde auch nicht viel gesprochen, denn das Ehepaar betrauerte den Tod seines einzigen Sohnes Eugen, der in dem verfluchten Krieg dieses verfluchten Hitlers an der russischen Front gefallen war. Es wurde ein langer Winter für Budden, den sie im Zimmer des schmerzlich vermissten Sohnes untergebracht hatten, wofür er, so gut er konnte, die anstehenden Arbeiten erledigte. Er lebte dort gut zwei Jahre, redete mit niemandem mehr als nötig, ganz wie die Mönche der benachbarten Kartause, ging allein spazieren, ließ sich von dem scharfen Wind durchblasen, der vom Finnischen Golf herüberwehte, weinte, wenn ihn niemand sah, und ließ nicht zu, dass die quälenden Bilder verblassten, denn in der Erinnerung besteht die Buße. Nach diesem zweijährigen Winter machte er sich auf den Weg zu der Kartause von Usedom und bat den Bruder Pförtner auf Knien, die Beichte ablegen zu dürfen. Nach einigem Zögern ob dieses unüblichen Anliegens bestimmten die Mönche einen zu seinem Beichtvater, einen alten Mann, der es gewohnt war zu schweigen, mit grauem Blick und einem leichten litauischen Zungenschlag, wann immer er mehr als drei Worte hintereinander sagte. Budden begann nach der Terz, mit tief gesenktem Kopf und monotoner Stimme, ohne ein Detail auszulassen. Er spürte auf dem Scheitel den entsetzten Blick des armen Klosterbruders, der ihn nur ganz zu Anfang ein einziges Mal unterbrach.
    »Bist du katholisch, mein Sohn?«
    Die übrigen vier Stunden der Beichte gab er keinen Ton von sich. Einmal hatte Budden den Eindruck, als weinte der Mann still. Dann rief die Glocke die Mönche zum Vespergebet, und der Beichtvater sagte mit bebender Stimme, ego te absolvo a peccatis tuis, und machte mit zitternder Hand dasKreuzzeichen, während er den Rest der Formel murmelte. In der folgenden Stille hing noch der Nachhall der Glocke, doch der Sünder rührte sich nicht vom Fleck.
    »Und die Buße, Pater?«
    »Geh im Namen …« Er wagte nicht, den Namen Gottes unnützlich zu führen, räusperte sich verlegen und fuhr fort: »Es gibt keine Buße, die … Keine Buße könnte … Bereue, mein Sohn; bereue, mein Sohn, bereue … Weißt du, im Grunde glaube ich, dass …«
    Budden hob den Blick, bedrückt, aber auch verwundert. Der Beichtvater hatte den Kopf sanft zur Seite geneigt und betrachtete einen Riss im Holz.
    »Was glaubt Ihr, Pater?«
    Buddens Blick fiel auf den Riss im Holz, der kaum zu erkennen war, weil es bereits dämmerte. Er sah den Beichtvater an und erschrak. Pater?, sagte er. Pater? Und es klang wie das Wimmern des litauischen Jungen auf der hintersten

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