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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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wollte mit der Auseinandersetzung nichts zu schaffen haben. Im Weggehen sah er Doktor Voigt aus dem Offizierskasino kommen und sich dem Aufruhr nähern. In Buddens Miene lag unverhohlene Verachtung für seinen Vorgesetzten, der sich in jeden Zwist einmischen musste. Gleichmütig ging er in sein Büro und hörte gerade noch den Schuss einer Luger.
    »Woher kommst du?«, fragte er mit rauer Stimme, ohne den Kopf von den Papieren zu heben. Schließlich musste er jedoch aufblicken, weil das Mädchen ihn nur stumm und verblüfft anschaute. Es knetete eine schmutzige Serviette in den Händen, und Doktor Budden verlor langsam die Nerven. Er wurde laut.
    »Hör gefälligst auf damit.«
    Die Kleine erstarrte, doch die Verblüffung in ihrem Gesicht blieb. Der Arzt seufzte, holte tief Luft und übte sich in Geduld. In diesem Moment läutete das Telefon auf seinem Schreibtisch.
    »Ja? / Ja, Heil Hitler.« / Erstaunt: »Wer? / Geben Sie sie mir mal. (…) Heil Hitler. Hallo.« Ungeduldig: »Ja, bitte?« / »Wer?« / Gereizt: »Was gibt es?« / Zornig: »Welcher Lothar?« / Erschrocken: »Ah, der Vater von diesem Verräter Franz?« / »Und was willst du?« / »Wer hat ihn verhaftet?« / »Und weshalb?« / »Also …, von hier aus kann ich da wirklich nichts …« / »Ich habe im Moment sehr viel Arbeit. Und wir wollen doch keine schlafenden Hunde wecken!« / »Irgendwas wird er schon ausgefressen haben.« / »Hör zu, Herta, wer Gurken pflanzt, muss auch für Schatten sorgen.«
    Er richtete den Blick auf das Mädchen mit der schmutzigen Serviette. »Niederländisch?«, fragte er. Und ins Telefon sagte er: »Du hast anscheinend viel Zeit, aber ich bin bei der Arbeit. Ich bin viel zu beschäftigt, um mich um solchen Firlefanz zu kümmern. Heil Hitler!«
    Und er legte auf. Er sah das Mädchen an und wartete auf eine Antwort.
    Die Kleine nickte. »Niederländisch« war offenbar das erste Wort, das sie verstanden hatte. Doktor Budden senkte die Stimme, damit niemand hörte, dass er nicht Deutsch sprach, und erkundigte sich im Niederländisch seiner Vettern, aus welcher Stadt sie stamme, und sie erwiderte, aus Antwerpen. Sie wollte ihm sagen, sei sei Flämin und wohne in der Arenbergstraat; sie wollte fragen, wo ihr Vater sei, den sie mitgenommen hatten. Aber sie sah den Mann, der ihr jetzt zulächelte, nur mit offenem Mund an.
    »Du musst einfach tun, was ich dir sage.«
    »Mir tut es hier weh.« Sie wies auf ihren Nacken.
    »Da ist nichts. Hör zu, was ich dir sage.«
    Sie sah ihn neugierig an. Der Arzt betonte noch einmal: »Und du musst mir gehorchen. Hast du verstanden?«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    »Dann muss ich dir die Nase abreißen, hast du mich jetzt verstanden?«
    Ruhig beobachtete er, wie das Mädchen erschrak und heftig nickte.
    »Wie alt bist du?«
    »Siebeneinhalb«, antwortete sie mit Nachdruck.
    »Name?«
    »Amelia Alpaerts. Arenbergstraat zweiundzwanzig, dritter Stock.«
    »Das reicht, das reicht.«
    »Antwerpen.«
    »Es reicht, habe ich gesagt!«, fuhr er sie ärgerlich an. »Und halt endlich den verdammten Lappen still, sonst nehme ich ihn dir weg.«
    Das Kind senkte den Blick und legte unwillkürlich die Hände auf den Rücken, als wollte es das blau karierte Tuch in Sicherheit bringen. Eine Träne rann ihm über das Gesicht.
    »Mama«, wimmerte es leise.
    Doktor Budden schnippte mit den Fingern, und einer derZwillinge, die an der hinteren Wand lehnten, trat vor und packte das Mädchen.
    »Bereitet sie vor«, befahl der Arzt.
    »Mama!«, schrie das Mädchen.
    »Los, die Nächste«, sagte der Doktor und sah in die Akte auf dem Tisch.
    »Holländisch?«, hörte ihn die Kleine mit der blau-weiß karierten Serviette sagen, während sie in ein Zimmer geführt wurde, in dem es stark nach Medizin roch, und ich wusste nicht weiter: keine Rechtfertigung, keine Erklärung, weil Laura keine von mir verlangte. Sie hätte mir ruhig sagen können, du bist ein elender Lügner, denn mir hast du gesagt, es gäbe keine andere Frau; sie hätte sagen können, warum fällt es dir so schwer, von ihr zu reden; sie hätte sagen können, du bist ein Feigling; sie hätte sagen können, du hast mich immer nur benutzt; sie hätte mir so vieles sagen können. Aber nein, im Büro ging alles weiter seinen gewohnten Gang. Die folgenden Monate betrat ich es so gut wie nie. Zweimal sind wir uns im Kreuzgang oder in der Bar begegnet. Ich war durchsichtig geworden. Es war nicht leicht, mich damit abzufinden. Und verzeih, Sara, dass ich

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