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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Pritsche, der immerzu Te˙ve, Te˙ve! gesagt hatte. Der Beichtvater war tot und konnte ihm nicht mehr helfen. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren begann Budden zu beten, ein erfundenes Stoßgebet, mit dem er flehentlich um unverdiente Hilfe bat.
    »Ich denke bei einem Gedicht oder einem Lied … nicht solche Sachen, ehrlich gesagt.«
    Adrià war hoch beglückt, weil das Mädchen ihn nicht gefragt hatte, ob das für die Prüfung morgen gebraucht würde. Seine Augen leuchteten.
    »Gut. Was denkst du dann?«
    »Nichts.«
    Vereinzeltes Gelächter. Das Mädchen wandte sich leicht verärgert nach den Lachenden um.
    »Ruhe«, sagte Adrià und sah das Mädchen mit dem kurzen Haar an, um es zum Weitersprechen zu ermuntern.
    »Also …«, sagte sie. »Ich habe keine Gedanken. Ich habe Gefühle, die ich nicht erklären kann.« Und mit dünner Stimme: »Manchmal …«, mit noch dünnerer Stimme, »… bringen sie mich zum Weinen.«
    Jetzt lachte niemand. Diese drei oder vier Sekunden derStille waren der wichtigste Moment dieses Kurses. Der Hausmeister brach den Zauber, indem er die Tür aufriss und sagte, es sei Zeit.
    »Die Kunst ist meine Rettung, aber sie kann nicht die Rettung der gesamten Menschheit sein«, entgegnete ihm Professor Ardèvol, und der Hausmeister, von diesem versponnenen Professor in Verlegenheit gebracht, machte die Tür wieder zu.
    »Die Kunst ist meine Rettung, aber sie kann nicht die Rettung der gesamten Menschheit sein«, wiederholte er Sara gegenüber, während sie im Esszimmer vor dem Urgell beim Frühstück saßen und auch das Gemälde zu einem neuen Tag zu erwachen schien.
    »Nein, die Menschheit ist nicht zu retten.«
    »Sei nicht traurig, Liebste.«
    »Ich bin aber traurig.«
    »Weshalb?«
    »Weil ich das Gefühl habe …«
    Pause. Sie trank einen Schluck Tee. Es klingelte, und Adrià ging zur Tür.
    »Vorsicht, aus dem Weg.«
    Caterina stürmte herein und rannte, ihren triefenden Regenschirm in der Hand, schnurstracks zum Badezimmer.
    »Regnet es?«
    »Ob’s schneit oder blitzt«, sagte sie aus dem Bad, »Sie bekommen es sowieso nicht mit.«
    »Jetzt übertreibst du aber.«
    »Übertreiben? Sie sind doch immer über den Wolken.«
    Ich ging zurück ins Esszimmer. Sara war fast fertig. Adrià griff nach ihrer Hand, um sie am Aufstehen zu hindern.
    »Warum bist du traurig?«
    Sie schwieg. Sie tupfte sich die Lippen mit einer blau-weiß karierten Serviette ab, die sie dann langsam zusammenfaltete. Ich stand neben ihr und wartete, während vom anderen Ende der Wohnung, wo Caterina hantierte, die gewohnten Geräusche zu uns drangen.
    »Weil ich das Gefühl habe, mich gegen das Andenken derMeinen zu versündigen, wenn ich es auf sich beruhen lasse. Gegen Onkel Chaim. Gegen … Ich habe viele Tote.«
    Ich setzte mich, ohne ihre Hand loszulassen.
    »Ich liebe dich«, sagte ich. Und du sahst mich an, traurig, still und schön. »Wir sollten ein Kind haben.« Endlich wagte ich, es auszusprechen.
    Du schütteltest den Kopf, als wagtest du nicht, es laut zu sagen.
    »Warum nicht?«
    Du zogst die Augenbrauen hoch und sagtest, uff.
    »Das Leben gegen den Tod, meinst du nicht?«
    »Dazu habe ich nicht den Mut.« Und kopfschüttelnd sagtest du nur, nein, nein, nein, nein, nein.
    Über die vielen Neins auf die Frage, ob wir ein Kind haben sollten, habe ich mich lange gewundert. Eines der Dinge, die ich am schmerzlichsten entbehre, ist, kein kleines Mädchen aufwachsen zu sehen, das dir ähnelt, zu dem niemand sagen würde, sei still, verdammt noch mal, oder ich reiße dir die Nase ab, weil es niemals unruhig eine blau-weiß karierte Serviette kneten müsste. Oder einen Jungen, der niemals in panischer Angst Te˙ve, Te˙ve sagen müsste.
    Nach seiner folgenschweren Beichte auf der frostigen Insel Usedom gab Budden seinen Platz am Kamin auf, verließ das Eisdorf an der Ostsee, nachdem er seinen vertrauensseligen Wirtsleuten ein Ausweispapier des betrauerten Eugen Müss gestohlen hatte, um Probleme mit den alliierten Besatzungsmächten zu vermeiden, und begann seine dritte Flucht, als fürchtete er, der arme Beichtvater könnte ihn vor seinen fassungslosen Klosterbrüdern bloßstellen und verdientermaßen anklagen. Im Grunde waren es nicht die Kartäuser und ihr Schweigen, was er fürchtete. Er fürchtete nicht die Buße, die ihm nicht auferlegt worden war; er fürchtete nicht den Tod; Selbstmord kam nicht in Frage, weil er wusste, dass er das Böse wiedergutmachen musste. Und er wusste sehr wohl, dass er die ewige

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