Das Schweigen des Sammlers
um. Adrià saß in einem bequemen Sessel am Fenster.
»Jònatan?«
»Was?«
»Bist du Jònatan?«
»Ich bin Bernat.«
»Nein, Wilson!«
»Wilson, ist das dieser quirlige Ecuadorianer?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube …« Er starrte Bernat verblüfft an. »Jetzt bin ich völlig durcheinander«, gestand er schließlich.
Der Himmel war verhangen und das Wetter windig und kalt, doch hätte es ebenso gut ein sonniger, strahlender Tag sein können, zu strikt trennte die Glasscheibe beide Welten voneinander. Bernat ging zum Nachttisch, zog die Schublade auf und holte Schwarzer Adler und Sheriff Carson heraus. Auf dass sie weiterhin vergeblich, aber getreu Wache halten konnten, setzte er sie auf den schmutzigen Lappen mit noch immer erkennbaren dunklen und hellen Karos und einem großen Riss in der Mitte; den Lappen, der unter den Ärzten für viel Gesprächsstoff gesorgt hatte, weil Senyor Ardèvol ihn in den ersten Tagen ununterbrochen mit beiden Händen umklammert hatte. Ein schmutziger, widerlicher Lappen, ja, Doktor. Eigenartig, nicht wahr? Was hat es denn mit diesem Lappen auf sich, Goldstück?
Adrià schabte mit dem Fingernagel an einem Fleck auf der Armlehne seines Stuhls herum. Als Bernat das Geräusch hörte, wandte er sich Adrià zu und fragte, alles in Ordnung?
»Es will einfach nicht abgehen.« Er kratzte energisch. »Sehen Sie?«
Bernat näherte sich, setzte die Brille auf und besah sich interessiert den Fleck. Unschlüssig nahm er die Brille wieder ab, klappte die Bügel zusammen und sagte, mach dir nichts draus, das bekommt man nicht weg. Dann setzte er sich wieder Adrià gegenüber. Das folgende Schweigen währte eine Viertelstunde und wurde von niemandem gestört, denn das Leben setzt sich aus lauter Einsamkeiten zusammen, die uns …
»Also schön, sieh mich an. Adrià, sieh mich um Gottes willen an.«
Adriá hörte auf zu schaben und sah ihn erschrocken an, dann lächelte er schuldbewusst, als fühlte er sich bei etwas Verbotenem ertappt.
»Ich bin mit der Abschrift deines Manuskripts fertig. Ich finde es sehr gut. Wirklich gut. Auch die Texte auf der Rückseite. Ich werde sie veröffentlichen lassen. Dein Freund Kamenek hat mir dazu geraten.«
Er sah ihm in die Augen. Verwirrt begann Adrià wieder wie besessen an dem Fleck auf der Armlehne zu kratzen.
»Du bist nicht Wilson.«
»Adrià. Ich spreche von dem, was du geschrieben hast.«
»Entschuldige.«
»Es gibt nichts zu entschuldigen.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Was du geschrieben hast, gefällt mir sehr. Ich weiß nicht, ob es besonders gut ist, aber mir gefällt es riesig. Das ist nicht fair. Du bist gemein.«
Adrià starrte ihn an, kratzte weiter, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann hob er hilflos die Arme.
»Was soll ich denn jetzt tun?«
»Hör zu. Mein ganzes Leben, Verzeihung, mein ganzes bbeschissenes Leben lang habe ich mich bemüht, etwas Anständiges zu schreiben, etwas, das den Leser aufwühlt, und du setzt dich einfach hin, obwohl du es nie zuvor versucht hast, und schaffst es, den Finger in die schmerzhaftesten Seelenwunden zu legen. Zumindest die meiner eigenen Seele. Das ist nicht fair, verdammt noch mal.«
Adrià Ardèvol zweifelte, ob er den Fleck abkratzen oder seinen Gesprächspartner anschauen sollte, und blickte bekümmert zur Wand.
»Ich glaube, Sie täuschen sich. Ich habe doch gar nichts getan.«
»Es ist nicht fair.«
Zwei dicke Tränen rollten über Adriàs Wangen. Er wollte den anderen nicht ansehen. Er knetete seine Hände.
»Was soll ich denn machen?«, fragte er bettelnd.
Bernat schwieg gedankenverloren. Da blickte Adrià ihn an und flehte: »Senyor, hören Sie zu.«
»Nenn mich nicht Senyor. Ich bin Bernat, und ich bin dein Freund.«
»Bernat, hör zu.«
»Nein, hör du mir zu. Denn jetzt weiß ich, wie du über mich denkst. Ich beklage mich nicht. Du hast mich durchschaut, und ich habe es nicht anders verdient. Aber noch immer habe ich Geheimnisse, von denen du nichts ahnst.«
»Tut mir leid.«
Sie schwiegen. Wilson kam herein und sagte, alles klar, Goldstück? Er hob Adriàs Kinn an, sah ihm prüfend ins Gesicht wie einem Kind und wischte ihm mit einem Kleenex die Tränen ab. Dann gab er ihm eine Tablette und ein halbvolles Glas Wasser, das Adrià gierig austrank, mit einer Gier, die Bernat nicht an ihm kannte. Wilson fragte wieder, alles klar?, und sah Bernat an. Der bedeutete ihm mit einer Geste, alles bestens, und Wilson warf einen schnellen Blick auf die über
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