Das Schweigen des Sammlers
habe.«
»Muss sich das Denken denn verändert haben?«
»Zumindest würden du und ich Perücken tragen.«
»Aber dadurch verändert sich das Denken nicht.«
»Nein? Wenn wir alle, Männer und Frauen, mit Perücken, langen Strümpfen und hohen Absätzen herumlaufen würden?«
»Die Ästhetik war im achtzehnten Jahrhundert eine andere als heute.«
»Nur die Ästhetik? Wenn du im achtzehnten Jahrhundert nicht geschminkt warst und keine Perücke, keine langen Strümpfe und hohen Absätze trugst, wurdest du in keinem Salon empfangen. Heutzutage würde man einen geschminkten Mann mit Perücke, langen Strümpfen und hohen Absätzen umstandslos einsperren.«
»Kommt hier die Moral ins Spiel?«
Es war die schüchterne Stimme eines mageren Mädchens aus der ersten Reihe. Adrià, der mitten im Raum stand, wandte sich zu ihr um.
»Jetzt gefällst du mir«, sagte er. Und das Mädchen wurde rot, was ich nicht beabsichtigt hatte. »Die Ästhetik, so sehr sie sich auch darauf versteifen mag, ist nie im Alleingang unterwegs.«
»Nein?«
»Nein. Sie hat eine ausgeprägte Fähigkeit, andere Formen des Denkens ins Schlepptau zu nehmen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Alles in allem war es ein Auftakt, der eine Grundlage für das schuf, was ich in den nächsten Wochen mit ihnen durchnehmen wollte. Und einen Moment lang vergaß ich sogar, dass zwischen Sara und mir Schweigen herrschte. Adrià bedauerte, Laura nicht mehr im Büro anzutreffen, als er dort seine Sachen holte, weil er ihr gern vom Erfolg ihres Einfalls berichtet hätte.
Als der Geigenbauer Pau Ullastres in seiner Werkstatt den Geigenkasten geöffnet hatte, sagte er sofort, das ist eine echte Cremona. Nur aufgrund ihres Duftes und ihrer Ausstrahlung. Vials konkrete Geschichte kannte Pau Ullastres zwar nicht, er hatte nur vage davon gehört, doch meinte er, eine Storioni koste ungeheuer viel Geld, und es sei sehr unvorsichtig von mir, nicht längst ein Wertgutachten eingeholt zu haben. Wegen der Versicherung, wissen Sie? Ich brauchte eine Weile, bis ich ihn verstand, so sehr war ich von der friedlichen Atmosphäre der Werkstatt in Bann gezogen. In dem warmen, rötlichen Licht, einem violinenfarbenen Licht, meinte man die Stille, die man mitten in Gràcia nicht erwartet hätte, fast mit Händen greifen zu können. Das Fenster ging auf einen Innenhof, und gegenüber befand sich ein Holzlager, dessen Tür offen stand. Dort alterte in aller Ruhe das Holz, während sich die Erde, mittlerweile rund, wie ein besessener Kreisel um sich selbst drehte.
Ich sah den Geigenbauer bestürzt an; ich wusste nicht, was er gesagt hatte. Er lächelte und wiederholte es.
»Die Idee, sie schätzen zu lassen, ist mir noch nie gekommen«, erwiderte ich. »Bei uns zu Hause war sie wie ein Möbelstück, einfach immer da. Und wir haben nie daran gedacht, sie zu verkaufen.«
»Ihr seid eine glückliche Familie.«
Ich sagte nicht, dass ich das bezweifelte, denn Pau Ullastres hätte nichts daran ändern können, ebenso wenig wie er die Schrammen zu lesen vermochte, deren Bedeutung noch nicht entziffert war. Der Geigenbauer bat mich um Erlaubnis und ließ sie erklingen. Er spielte besser als Dr. Casals. Fast klang es, als spielte Bernat.
»Traumhaft«, sagte er. »Wie eine Guarneri.«
»Sind alle Storionis so gut?«
»Alle wohl nicht. Diese hier schon.« Er roch mit geschlossenen Augen an ihr. »Sie war eingesperrt, stimmt’s?«
»Schon lange nicht mehr. Das war zu der Zeit, als …«
»Geigen sind lebendige Wesen. Das Holz einer Geige ist wie Wein. Es arbeitet unablässig und sollte die Spannung derSaiten spüren. Es tut ihm gut, zum Klingen gebracht zu werden, es fühlt sich wohl bei gemäßigten Temperaturen, es will atmen, keine Schläge abbekommen, sauber gehalten werden … Schließen Sie sie nur ein, wenn Sie verreisen.«
»Ich würde gern mit ihren früheren Besitzern in Verbindung treten.«
»Haben Sie die Besitzurkunde?«
»Ja.«
Er zeigte ihm den Kaufvertrag seines Vaters mit Saverio Falegnami.
»Und das Echtheitszertifikat?«
»Ja.«
Ich zeigte ihm das Zertifikat, ausgestellt von Großvater Adrià und dem Geigenbauer Carlos Carmona in einer Zeit, in der man für ein paar Tausender sogar Falschgeld für echt erklären lassen konnte. Pau Ullastres betrachtete es neugierig und gab es mir kommentarlos zurück. Er überlegte eine Weile.
»Wollen Sie sie jetzt schätzen lassen?«
»Nein. Eigentlich will ich nur Gewissheit, wer ihre früheren Eigentümer waren. Und die
Weitere Kostenlose Bücher