Das Schweigen des Sammlers
Kerl.«
»Soweit wir wissen, macht es ihm wohl nicht viel aus.«
»Er kann von seinen Erinnerungen leben.«
»Glauben Sie das nicht. Er erinnert sich an nichts. Er lebt nur den Augenblick. Und hat ihn sofort wieder vergessen.«
»Meinen Sie, er weiß schon nicht mehr, dass ich bei ihm war?«
»Er hat nicht nur vergessen, dass Sie da waren, ich glaube, er weiß nicht einmal genau, wer Sie sind.«
»Ich habe auch den Eindruck, dass er sich nicht mehr sicher ist. Wenn wir ihn in seine Wohnung brächten, vielleicht ginge ihm dort ein Licht auf.«
»Senyor Plensa, bei dieser Krankheit bilden sich intraneuronale Faserbündel …« Der Arzt hielt inne und dachte nach. »Wie soll ich es Ihnen verdeutlichen …« Er überlegte noch einen Moment und fuhr dann fort: »Die Neuronen verwandeln sich in harte Fasern und Knoten …« Hilfesuchend blickte er um sich. »Damit Sie sich eine Vorstellung machen können: Es ist, als fülle sich das Gehirn unaufhaltsam mit Zement. Sie bringen Senyor Ardèvol nach Hause, und er wird nichts wiedererkennen und sich an nichts erinnern. Das Gehirn Ihres Freundes ist unwiderruflich zerstört.«
»Demnach kennt er mich also gar nicht«, wollte Bernat sich noch einmal vergewissern.
»Er ist höflich, weil er ein höflicher Mensch war. Er erkennt fast niemanden mehr, und mir scheint, als erkenne er sich nicht einmal mehr selbst.«
»Immerhin liest er noch.«
»Nicht mehr lange. Bald wird er es vergessen haben. Er liest einen Absatz und weiß nicht mehr, was darin steht, und muss ihn wieder von vorne lesen, verstehen Sie? Und danach ist er genauso weit wie vorher. Nein: restlos erledigt.«
»Ist es denkbar, dass er gar nicht leidet, wenn er sich an nichts erinnert?«
»Mit Gewissheit kann ich das nicht sagen. Anscheinend nicht. Und bald werden auch andere Vitalfunktionen beeinträchtigt sein.«
Als Bernat aufstand, waren seine Augen feucht. Eine Epoche ging zu Ende. Für immer. Und mit dem langsamen Tod seines Freundes starb auch er ein wenig.
Die Trullols kam mit ihrem Putzwagen ins Zimmer 54. Sie packte die Griffe des Rollstuhls und schob Adrià in eine Ecke, wo er nicht störte.
»Hallo, Schätzchen.« Prüfend betrachtete sie den Fußboden. »Lass mal sehen, wo du gekleckert hast.«
»Hallo, Wilson.«
»Was für eine Schweinerei du wieder gemacht hast!«
Die Frau begann, die Reste der Grießsuppe wegzuwischen, und sagte, wir werden dir wohl beibringen müssen, nicht so herumzuferkeln, und Adrià sah sie beunruhigt an. Mit ihrem Putzlappen näherte sich die Trullols dem Rollstuhl, und Adrià beobachtete sie, verstört von ihrer Schelte. Sie knöpfte seinen oberen Hemdknopf auf, sodass das Kettchen mit dem Medaillon zu sehen war, wie es Daniela vor über fünfzig Jahre getan hatte.
»Das ist schön.«
»Ja. Es gehört mir.«
»Nein, mir.«
»Ach …«, sagte er verdutzt.
»Du gibst sie mir wieder, stimmt’s?«
Adrià Ardèvol schaute die Frau ratlos an. Sie warf einen raschen Blick zur Tür, dann streifte sie Adrià die Kette sanft über den Kopf und ließ sie in ihre Kitteltasche gleiten.
»Danke, Schätzchen«, sagte sie.
»Nichts zu danken.«
47
Er öffnete selbst die Tür. Älter, so dünn wie immer und mit demselben durchdringenden Blick. Aus dem Inneren der Wohnung schlug Adrià ein intensiver Geruch entgegen, von dem er zunächst nicht wusste, ob er ihn mochte oder nicht. Mehrere Sekunden stand Senyor Berenguer in der offenen Tür, als könnte er den Besucher nicht auf Anhieb erkennen. Mit einem akkurat gefalteten Taschentuch tupfte er sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Endlich sagte er:
»Na, so was! Ardèvol!«
»Darf ich reinkommen?«, fragte Ardèvol.
Nach weiterem sekundenlangem Zögern ließ er ihn ein. Drinnen war es noch wärmer als draußen. Der Eingangsbereich war ziemlich groß, sehr ordentlich und sauber, mit einer prachtvollen Pedrell-Garderobe von achtzehnhundertsiebzig, die ein Vermögen wert sein musste, mit Schirmständer, Spiegel und vielen Verzierungen. Und einer Konsole in der Ecke, eindeutig Chippendale, mit einem Trockenblumengesteck darauf. Er führte ihn in ein Zimmer, in dem an einer Wand ein Utrillo und ein Rusiñol hingen. Das Sofa war von Torrijos Hermanos, ein Einzelstück, vermutlich das einzige überhaupt, das den historischen Brand der Werkstatt überlebt hatte. Und an einer anderen Wand die liebevoll gerahmte Doppelseite einer Handschrift. Adrià wagte nicht, näher heranzugehen und nachzusehen, um was es sich
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