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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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nicht weiß, ob du es weißt, was aber besser niemand wissen sollte.
    »Seltsam, dass sie nicht mit Ihnen spricht«, wiederholte Dora.
    Seltsam, ja, aber vor allem besorgniserregend.
    »Sie ist mit jedem Tag gesprächiger, Senyor Roig, kaum kommt man in ihre Nähe, fängt sie an, auf Norwegisch oder so zu reden … Sie müssten sich einmal verstecken und heimlich lauschen.«
    Und das tat er, unterstützt von dieser Matrone in Schwesterntracht, der Gertruds Wohlergehen ein persönliches Anliegen war und die ihr jeden Tag sagte, heute bist du hübscher denn je, Gertrud, und wenn Gertrud zu sprechen anfing, ihre taube Hand nahm und sagte, was redest du da, ich verstehe dich nicht, meine Süße, du siehst doch, dass ich kein Isländisch kann, so leid es mir tut. Und Professor Roig, der zu dieser Zeit eigentlich bei der Arbeit sein sollte, wartete im Nebenzimmer darauf, dass Gertrud wieder zu sprechen begänne, und am frühen Nachmittag, als er fast am Einnicken war und seine Komplizin, die Krankenschwester, zu ihr ging, um sie turnusgemäß umzulagern, sagte Gertrud genau das, was ich befürchtet hatte, und ich begann zu zittern wie Espenlaub.
    Gott bewahre, es war keine Absicht gewesen, auch wennin seinem tiefsten schwärzesten Inneren ein uneingestandener Wunsch nistete. Es war die Müdigkeit nach zwei langen Stunden auf der dunklen Straße. Gertrud saß dösend auf dem Beifahrersitz, und ich fuhr und überlegte verzweifelt, wie ich ihr sagen sollte, dass ich sie verlassen wolle, dass es mir sehr leidtue, ich mich aber entschieden hätte, ich könne es nicht ändern, manchmal mache einem das Leben halt einen Strich durch die Rechnung, und dass es mir egal sei, was die Familie oder die Kollegen oder die Nachbarn dazu sagen würden, denn jeder habe das Recht auf eine zweite Chance, und die biete sich mir jetzt. Ich bin wahnsinnig verliebt, Gertrud.
    Dann die unerwartete Kurve und der plötzliche Entschluss, den er eigentlich gar nicht hatte fassen wollen, und weil im Dunkeln alles so einfach schien, öffnete er die Tür, löste seinen Gurt und sprang auf den Asphalt, und das Auto rollte weiter, ungebremst, und das Letzte, was ich von Gertrud hörte, war ihr Schrei, was ist los, was ist los, Saaaaandreeeee …, und noch etwas, das ich nicht verstand, und dann verschluckte der Abgrund den Wagen, Gertrud und ihre Angst, und seitdem nichts mehr, ihr schneidender Blick und sonst nichts. Allein zu Hause, wenn Dora mich aus dem Krankenhaus geworfen hatte, dachte ich an dich, an die Fehler, die ich gemacht hatte, und suchte wie ein Verrückter nach dem Zettel, auf den du mir den Namen des Eigentümers der Geige geschrieben hattest, und träumte davon, nach Gent oder Brüssel zu reisen, mit Vial in ihrem blutbefleckten Geigenkasten, an einem wohlhabenden Haus die Klingel zu drücken, worauf erst ein vornehmes Bim und dann ein elegantes Bam ertönen und ein Dienstmädchen mit gestärktem Häubchen die Tür öffnen und mich fragen würde, Sie wünschen?
    »Ich möchte die Geige zurückbringen.«
    »Ach so, ja, kommen Sie rein. Wird auch langsam Zeit.«
    Das steife Dienstmädchen schloss die Tür und verschwand. Leise hörte ich es sagen, Senyor, da ist jemand, der Vial zurückbringen will. Und sofort erschien in einem dunkelrotund schwarz karierten Hausmantel ein stattlicher weißhaariger Mann, der einen Baseballschläger umklammerte und sagte, Sie sind das Schwein Ardefol?
    »Ja …«
    »Haben Sie Vial mitgebracht?«
    »Hier, bitte.«
    »Fèlix Ardefol, nicht wahr?«, sagte er und hob den Schläger auf Schulterhöhe.
    »Nein. Fèlix war mein Vater. Ich bin das Schwein Adrià Ardefol.«
    »Darf ich fragen, warum es so lange gedauert hat, bis Sie mir Vial zurückgeben?« Noch immer zielte der Schläger bedrohlich auf meinen Kopf.
    »Das ist eine so lange Geschichte, dass ich sie jetzt nicht …, ich bin müde, und meine Liebste liegt im Krankenhaus und schläft.«
    Der stattliche weißhaarige Mann warf den Baseballschläger auf den Boden, wo ihn das Dienstmädchen aufhob, und dann riss er mir den Geigenkasten aus der Hand, kauerte sich auf den Boden, öffnete ihn, entfernte das Schutzpolster und hob die Storioni heraus. Eine Pracht. In diesem Moment bereute ich, was ich tat, denn der stattliche weißhaarige Mann war dieser Geige nicht würdig. Ich erwachte schweißgebadet und ging wieder zu dir ins Krankenhaus und sagte, ich habe mir die größte Mühe gegeben, aber ich kann den Zettel nicht finden. Nein, verlange nicht von mir,

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