Das Schweigen des Sammlers
traute sich nicht, etwas zu sagen, um nicht alles noch schlimmer zu machen. Und nach einer Ewigkeit begann sie, ein Geschrei zu hören, Tiberium in Tiberim, Tiberium in Tiberim; es war das letzte, was sie gelesen hatte, ehe die Dunkelheit sie überfiel. Und allmählich zeichnete sich ein Gesicht ab, zwei oder drei Gesichter, die mit ihr redeten, ihr den Löffel in den Mund schoben, den Schweiß abtrockneten, und sie fragte sich, was ist los, wo bin ich, warum sagt mir keiner was, und fühlte sich weit weg, sehr weit weg, umgeben von Nacht, und zuerst verstand sie nicht oder wollte nicht verstehen, und in ihrer Verwirrung flüchtete sie sich wieder in Sueton und sagte, morte eius ita laetatus est populus, ut ad primum nuntium discurrentes pars: »Tiberium in Tiberim!«, clamitarent. Sie schrie es heraus, doch Sueton war nur in ihrem Kopf, und offenbar konnte niemand sie hören. Vielleicht weil sie Lateinisch sprach und … Nein. Ja. Und es dauerte unendlich lange, bis sie sich erinnerte, zu wem dieses Gesicht gehörte, das sie ständig vor sich sah und das irgendetwas sagte, das sie nicht verstand. Und eines Tages kam die Erinnerung an jenen Abend zurück, und sie fing an, zwei und zwei zusammenzuzählen, und nacktes Entsetzen befiel sie. Und sie brüllte vor Angst. Alexandre Roig wusste nicht, was schlimmer war, das unerträgliche Schweigen zu ertragen oder sich den Konsequenzen seines Handelns endlich zu stellen. Er wusste nicht, ob es richtig war, aber eines Tages fragte er:
»Doktor, warum spricht sie nicht?«
»Aber sie spricht doch.«
»Verzeihung, aber meine Frau spricht nicht, seit sie aus dem Koma erwacht ist.«
»Ihre Frau spricht, Senyor Roig. Seit ein paar Tagen. Hat man Ihnen das nicht gesagt? Wir verstehen keinen Ton, weil sie in einer seltsamen Sprache redet, die wir nicht … Aber sie redet. Und wie sie redet.«
»Spricht sie Lateinisch?«
»Lateinisch? Nein. Ich glaube nicht. Na ja, mit Sprachen habe ich es nicht so …«
Gertrud sprach also, nur ihm gegenüber schwieg sie weiter. Das entsetzte ihn mehr als ihr schneidender Blick.
»Warum sagst du nichts zu mir, Gertrud?«, fragte er, ehe er ihr die ewige Grießsuppe einflößte, denn in diesem Krankenhaus gab es anscheinend nichts anderes zu essen.
Doch die Frau sah ihn nur auf die gleiche durchdringende Weise an wie immer.
»Hörst du mich? Kannst du mich hören?«
Er wiederholte es auf Estnisch und zu Ehren ihres Großvaters auf Italienisch. Gertrud schwieg und machte den Mund nur auf, um einen Löffel der immergleichen Grießsuppe in Empfang zu nehmen, als interessierte die Unterhaltung sie nicht im Geringsten.
»Was erzählst du den anderen?«
Noch einen Löffel Suppe. Alexandre Roig war, als unterdrückte sie ein höhnisches Lächeln, und seine Hände wurden feucht. Stumm gab er ihr die Suppe und mied dabei den Blick seiner Frau. Als sie aufgegessen hatte, neigte er sich über sie, kam ihr so nah, dass er fast ihre Gedanken riechen konnte, küsste sie aber nicht. Er flüsterte ihr ins Ohr, was erzählst du ihnen, Gertrud, das du mir nicht erzählen kannst. Und er wiederholte es auf Estnisch.
Sie war vor zwei Wochen aus dem Koma erwacht; vor zwei Wochen hatte man ihm gesagt, Professor Roig, wie befürchtet, wird ihre Frau infolge der erlittenen Verletzungen vom Hals abwärts querschnittsgelähmt bleiben. Heute können wir nichts machen, aber vielleicht gibt es für diese Art von Schädigungen ja in ein paar Jahren eine Hoffnung auf Besserung oder gar Heilung; und ich war sprachlos, denn es stürzte zu viel, zu Gewaltiges auf mich ein, und noch konnte ich das wahre Ausmaß des Verhängnisses gar nicht erfassen. Mein ganzes Leben stand kopf. Und jetzt auch noch das beklemmende Gefühl, nicht zu wissen, was Gertrud sagte.
»Es ist normal, dass diese Patienten eine leichte Regression zeigen. Häufig sprechen sie in der Sprache, die sie in ihrer Kindheit gesprochen haben. Schwedisch?«
»Ja.«
»Bedauerlicherweise ist unter unserem Personal niemand …«
»Schon gut.«
»Seltsam ist nur, dass sie nicht mit Ihnen spricht.«
Verflixtes Weibsstück. Armes Ding.
Schon vierzehn Tage später durfte Alexandre Roig seine Frau mit nach Hause nehmen. Er überließ die fachlichen Belange Dora, der korpulenten Expertin in Palliativmedizin, die ihm von der Klinik empfohlen worden war, während er selbst Gertrud weiterhin ihre Suppe gab, ihrem Blick auswich und dachte, was weißt du, und was denkst du über das, was ich weiß, und wovon ich
Weitere Kostenlose Bücher