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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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schon viel zu lange nicht bei dir war, und als ich endlich an deinem Bett saß, ergriff ich deine Hand und sagte, ich habe Maßnahmen ergriffen, sie zurückzugeben, Sara, aber im Augenblick komme ich nicht weiter. Ich möchte sie ihrem wahren Eigentümer zurückgeben, nicht irgendeinem Schmarotzer. Und der Geigenbaumeister hat mir eindringlich geraten, mit größter Umsicht vorzugehen, und überstürzen Sie nichts, Senyor Ardèvol. Es gibt viele Aasgeier, die auf Geschichten wie die Ihre lauern. Verstehst du, Sara?
    »Gertrud.«
    Die Frau schaute zur Decke und machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden. Alexandre wartete, bis sich die Wohnungstür hinter Dora geschlossen hatte und sie allein waren.
    »Es war meine Schuld«, sagte er sanft. »Verzeih mir … Vermutlich bin ich eingeschlafen … Es war meine Schuld.«
    Sie sah ihn an, und ihr Blick schien von weit her zu kommen. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Nach einigen unendlich langen Sekunden jedoch schluckte sie nur und wandte die Augen ab.
    »Ich habe es nicht mit Absicht getan, Gertrud. Es war ein Unfall …«
    Sie sah ihn an, und nun war er es, der schluckte: Diese Frau wusste alles. Noch nie hatte mich ein Blick so durchbohrt. Mein Gott. Sie war imstande, dem Erstbesten jeden erdenklichen Unsinn zu erzählen, denn jetzt weiß sie, dass ich weiß, dass sie es weiß. Ich fürchte, mir wird nichts anderes übrigbleiben. Ich will nicht, dass du meinem wohlverdienten Glück im Weg stehst.
    Mein Mann will mich umbringen. Hier versteht mich niemand. Benachrichtigen Sie meinen Bruder, Osvald Sikemäe, er ist Lehrer in Kunda, er soll mich retten. Bitte, ich habe Angst.
    »Nein …«
    »Doch.«
    »Lies mir das noch mal vor«, sagte Dora.
    Àgata blätterte in ihrem Notizbuch. Dann prüfte sie mit einem kurzen Blick, ob der Kellner schon weit genug entfernt war, und wiederholte, mein Mann will mich umbringen. Hier versteht mich niemand. Benachrichtigen Sie meinen Bruder, Osvald Sikemäe, er ist Lehrer in Kunda, er soll mich retten. Bitte, ich habe Angst. Und sie fügte noch hinzu, ich bin ganz allein auf der Welt, ganz allein auf der Welt. Jemanden, der mich versteht und den ich verstehe.
    »Und du, was hast du darauf gesagt? Das ist das erste Mal, seit ich sie pflege, dass sie sich mit jemandem unterhalten konnte. Bisher hat die arme Frau immer nur mit den Wänden geredet. Was hast du ihr gesagt?«
    »Senyora …, das ist der Schock …«
    »Mein Mann weiß, dass ich weiß, dass er mich umbringen will. Ich habe große Angst. Ich will zurück ins Krankenhaus. Hier allein mit ihm … fürchte ich mich vor allem … Glauben Sie mir nicht?«
    »Natürlich glaube ich Ihnen. Aber …«
    »Sie glauben mir nicht. Er wird mich töten.«
    »Warum sollte er Sie denn töten wollen?«
    »Ich weiß es nicht. Wir haben uns bisher immer gut verstanden. Ich weiß es nicht. Dieser Unfall …« Àgata blätterte um und versuchte weiter, die hastig hingekritzelten Worte zu entziffern. »Dieser Unfall scheint mir … Wieso ist ihm nichts …« Ratlos blickte sie auf. »Das arme Ding hat nur zusammenhangloses Zeug geredet.«
    »Und glaubst du ihr?«, fragte Dora beklommen.
    »Ach, ich weiß nicht recht.«
    Beide sahen die schweigsame dritte Frau an, die nun, als hätte die Frage auch ihr gegolten, zum ersten Mal das Wort ergriff.
    »Ich glaube ihr. Wo liegt Kunda?«, sagte Helena.
    »An der Ostseeküste. Am Finnischen Golf.«
    »Und wie kommt es, dass du Estnisch kannst und weißt, wo …« Dora sah Àgata verwundert an.
    »Tja …«
    Ich hätte ihr gern gesagt, dass ich Aadu Müür kannte, ja, diesen gutaussehenden Jungen, ein Meter neunzig, gutmütiges Lächeln … Ich begegnete ihm vor acht Jahren und verliebte mich in ihn wie ein Backfisch; ich verliebte mich in den Uhrmacher Aadu Müür und zog mit ihm nach Tallinn und wäre ihm ans Ende der Welt gefolgt, dorthin, wo die Berge aufhören und der grausige Abgrund beginnt, wo du nicht ausrutschen darfst, denn dann landest du in der Hölle, weil du dir einen Moment lang eingebildet hast, die Erde sei rund. Bis dorthin wäre ich mit ihm gegangen, wenn Aadu mich darum gebeten hätte. Und in Tallinn arbeitete ich in einem Friseursalon, und später verkaufte ich Eiscreme in einem Lokal, wo abends auch Alkohol ausgeschenkt werden durfte, und irgendwann konnte ich so gut Estnisch, dass man wegen meiner Aussprache oft vermutete, ich stammte von der Insel Saaremaa oder so, und wenn ich sagte, ich sei Katalanin, waren alle

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