Das Schweigen des Sammlers
baff. Es heißt, die Esten seien frostig, aber das ist nicht wahr, denn mit etwas Wodka im Blut erweisen sie sich als warmherzig und leutselig. Eines bösen Tages verschwand Aadu, und ich hörte nie wieder von ihm, na ja, schon, aber daran will ich mich lieber nicht erinnern, und so kam ich zurück, denn ohne Aadu, den Uhrmacher, hatte ich keinen Grund, in dieser klirrenden Kälte dort oben weiterhin Eiscreme an angetrunkene Esten zu verkaufen. Ich bin immer noch nicht darüber hinweg. Und dann rief mich Helena an und fragte, du sprichst doch Estnisch, stimmt’s? Und ich, ja, warum? Und sie, ich habe nämlich eine Freundin, die heißt Dora und ist Krankenschwester, und sie hat ein Problem … Sie hat Angst, es könnte sich um eine ernstzunehmende Angelegenheit handeln … Und da ich alles täte, um Aadus eins neunzig und seine süße Zweiflerseele zu vergessen, die eines Tages plötzlich aufgehört hatte, süßzu sein und zu zweifeln, sagte ich, natürlich, mein Estnisch ist noch ganz frisch, wo soll ich hinkommen, was ist zu tun?
»Nein, nein … Ich meine, wie kommt es, dass du es so gut kannst? Denn ich hatte meine liebe Not herauszufinden, dass sie Estnisch sprach. Es kam mir kein bisschen bekannt vor, weißt du? Bis sie einmal etwas sagte, ich weiß nicht mehr was, und ich sie fragte, Norwegisch, Schwedisch, Dänisch, Finnisch, Isländisch? Und als ich Estnisch sagte, glaubte ich, ihre Augen aufleuchten zu sehen. Das war alles, ja. Ich hatte richtig geraten.«
»Das Problem ist, dass wir nicht wissen, ob der Ehemann ein Serienmörder ist oder ob sie Wahnvorstellungen hat. Ob wir uns selbst in Gefahr begeben, wenn ihr wisst, was ich meine.«
»Ich glaube«, mischte sich Helena zum zweiten Mal ein, »ich habe noch nie eine so verängstigte Frau gesehen. Wir sollten von jetzt an lieber aufpassen.«
»Wir müssen sie noch mehr fragen.«
»Soll ich noch mal mit ihr sprechen?«
»Ja.«
»Und wenn er kommt, was dann?«
Alexandre Roig war nach einem leidenschaftlichen Kurzbesuch bei seiner Geliebten zu einem endgültigen Entschluss gelangt. Es tut mir leid, Gertrud, aber ich kann nicht anders, du zwingst mich dazu. Jetzt beginnt für mich das Leben. Und während er gedankenverloren die Treppe der U-Bahn hinaufstieg, sagte er sich, heute Nacht ist es so weit.
Unterdessen erzählte Gertrud auf Estnisch immer mehr, und Àgata, die sich als Krankenschwester verkleidet hatte, obwohl ihr beim kleinsten Tropfen Blut schwarz vor Augen wurde, übersetzte es aufgeregt für Dora, und Gertrud sagte, ich sah ihn im Dunkeln an und betrachtete sein Profil. Ja, denn er ist schon seit einiger Zeit seltsam, sehr seltsam, und ich weiß nicht, was er hat, sein Gesicht war ganz verkniffen, und er saß so da, und die arme Gertrud wollte vormachen, wie er dagesessen hatte, merkte aber, dass sie außer ihren Gedanken nichts bewegen konnte, und dann sagte sie, in diesem Moment hatte ich das Gefühl, in seine Seele zu blicken und zu sehen, dass er mich schon allein dafür hasste, dass es mich gab. Und er sagte, jetzt ist Schluss, ich scheiß auf alles. Ja, genau so: Jetzt ist Schluss, ich scheiß auf alles.
»Hat er das auf Estnisch gesagt?«
»Was?«
»Ob er das auf Estnisch gesagt hat.«
»Keine Ahnung … Dann habe ich ihn an seinem Gurt herumnesteln sehen, und das Auto stürzte ins Leere, und ich schrie Saaaaandreeeee, du Saaaukeeerl … Und das war alles, das war alles …, bis ich im Krankenhaus wieder zu mir kam und er vor mir saß und sagte, es war nicht meine Schuld, Gertrud, es war ein Unfall.«
»Ihr Mann spricht kein Estnisch.«
»Nein. Aber er versteht es. Oder vielleicht spricht er es auch.«
»Und Sie, könnten Sie nicht Katalanisch sprechen?«
»In welcher Sprache rede ich denn?«
Plötzlich hörten sie den Schlüssel im Schloss, und den drei Frauen gefror das Blut in den Adern.
»Nimm das Fieberthermometer. Nein, massiere ihr die Beine!«
»Wie geht das?«
»Herrje, einfach reiben. Er sollte um diese Zeit gar nicht hier sein.«
»Ui, wir haben ja Besuch«, sagte er und versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Guten Abend, Senyor Roig.«
Er sah Àgata und Helena an, dann Dora. Ein rascher, argwöhnischer Blick. Er öffnete den Mund. Er sah, wie eine der fremden Pflegerin Gertruds rechten Fuß massierte, als spielte sie mit Knetmasse.
»Wir …, ich habe Hilfe bekommen.«
»Wie geht es ihr.« Er schaute auf Gertrud.
»Wie gehabt. Unverändert.« Sie nickte zu Àgata hinüber.
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