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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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den Mund auf, das ist der letzte. So ist’s brav.«
    Er hob den Deckel vom zweiten Teller und sagte, hmmm, köstlich, gekochtes Huhn. Magst du das?
    Adrià sah gleichgültig an die Wand.
    »Ich liebe dich, Adrià. Und ich erspare es dir, dir von der Geige zu erzählen.«
    Adrià musterte ihn mit Gertruds Blick oder mit dem Blick, in dem Adrià in Saras Augen Gertruds Blick erkannt hatte.
    »Ich liebe dich«, sagte Bernat noch einmal. Er riss ein trauriges Stück bleichen Hähnchenschenkel ab und sagte, ist das köstlich. Mach den Mund auf, Llorenç.
    Als sie mit dem Abendessen fertig waren, kam Jònatan herein, um das Tablett abzuräumen, und fragte, willst du schlafen gehen?
    »Wenn es Ihnen recht ist, übernehme ich das.«
    »In Ordnung: Wenn Sie Hilfe brauchen, pfeifen Sie einfach nach mir.«
    Als sie allein waren, kratzte sich Adrià am Schädel, schnaubteund wandte seinen leeren Blick wieder der Wand zu. Bernat kramte aus seiner Mappe ein Buch hervor.
    »Die Geschichte des Bösen«, las er den Titel vor. »Adrià Ardèvol.«
    Adrià sah ihm in die Augen, dann sah er den Einband an. Er gähnte.
    »Weißt du, was das ist?«
    »Ich?«
    »Ja. Das hast du geschrieben. Du hast mich gebeten, es nicht zu veröffentlichen, aber an der Uni hat man mir versichert, dass es sich auf jeden Fall lohnt. Erinnerst du dich?«
    Stille. Adrià war sichtlich unbehaglich zumute. Bernat nahm seine Hand und spürte, wie sein Freund sich beruhigte. Dann erklärte er ihm, dass Professorin Parera die Herausgabe übernommen hatte.
    »Ich glaube, sie hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Und sie wurde von Professor Kamenek beraten; mir scheint, der Kerl arbeitet mehr als vierundzwanzig Stunden am Tag. Und er schätzt dich sehr.«
    Er streichelte Adriàs Hand, und Adrià lächelte. So saßen sie eine ganze Weile schweigend beisammen wie zwei Liebende. Adrià ließ seinen Blick gleichgültig über den Bucheinband streifen und gähnte.
    »Ich habe deinen Vettern in Tona Exemplare des Buches geschickt. Sie waren sehr ergriffen. Noch vor Silvester kommen sie dich besuchen.«
    »Sehr schön. Wer sind die?«
    »Xevi, Rosa – und wie der dritte heißt, weiß ich nicht mehr.«
    »Aha.«
    »Erinnerst du dich an sie?«
    Wie immer, wenn Bernat ihm diese Frage stellte, schnalzte Adrià mit der Zunge, als wäre er ärgerlich oder beleidigt.
    »Ich weiß es nicht«, gestand er dann verlegen.
    »Wer bin ich?«, fragte Bernat zum dritten Mal an diesem Abend.
    »Du.«
    »Und wie heiße ich?«
    »Du. Dings. Wilson. Ich bin müde.«
    »Dann los, ab ins Bett, es ist ja schon spät. Ich lege dir das Buch auf den Nachttisch.«
    »Sehr schön.«
    Bernat packte den Rollstuhl, um ihn zum Bett zu schieben. Unruhig drehte Adrià sich halb um und protestierte zaghaft: »Jetzt weiß ich nicht … soll ich im Rollstuhl schlafen oder im Bett? Oder am Fenster.«
    »Im Bett. Da ist es bequemer.«
    »Nein, nein, nein: Ich glaube, es muss am Fenster sein.«
    »Wie du willst, mein Lieber«, sagte Bernat und schob den Rollstuhl ans Bett. Dann sagte er: »Verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir.«
    Die schneidende Kälte, die durch die Fensterritzen hereindrang, weckte ihn auf. Es war noch dunkel. Er schlug die Zündsteine aneinander, bis der Kerzendocht Feuer fing. Dann zog er die Kutte an, warf den Reisemantel über und trat in den schmalen Korridor hinaus. Aus einer der Zellen, die auf den Hügel von Santa Barbara hinausgingen, drang zaghafte Helligkeit herein. Kälte und Kummer sandten Schauer über seinen Rücken, als er zur Kirche hinüberging. Die Kerze, die den Sarg bescheinen sollte, in dem Fra Josep de Sant Bartomeu ruhte, war heruntergebrannt. Er stellte stattdessen seine Kerze hin. Die Vögel, die die nahende Dämmerung fühlten, stimmten trotz der Kälte ihren Morgengesang an. Er sprach ein inbrünstiges Vaterunser für das Seelenheil des guten Pater Prior. Das flackernde Kerzenlicht ließ die Wandmalereien der Apsis seltsam verzerrt erscheinen. Die Heiligen Petrus, Paulus und … und … und die anderen Apostel, und die Gottesmutter und der strenge Pantokrator schienen sich in einem langsamen, schweigenden Tanz über die Wand zu bewegen.
    Buchfinken, Grünfinken, Amseln, Spatzen und Distelfinken besangen die Ankunft des neuen Tages, wie die Mönche jahrhundertelang das Lob Gottes gesungen hatten. Buchfinken, Grünfinken, Amseln, Spatzen und Distelfinken schienen zu jubilieren über die Nachricht vom Tod des Priors von Sant Pere de Burgal. Vielleicht sangen sie aber

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