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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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aus. Um sicherzugehen, wiederholte er, wissen Sie, ich wollte ihm seine Geige abkaufen.
    »Herr Alpaerts hat nie eine Geige besessen.«
    »Wie viele Jahre war er hier?«
    »Fünf oder sechs.« Sie konsultierte den Bildschirm, dann verbesserte sie sich: »Sieben.«
    »Sind Sie sicher, dass der Mann auf dem Foto Matthias Alpaerts ist?«
    »Natürlich. Ich arbeite seit zwanzig Jahren hier.« Zufrieden fuhr sie fort: »An die Gesichter erinnere ich mich alle. Mit den Namen ist es eine andere Sache.«
    »Hatte er einen Angehörigen, der …«
    »Herr Alpaerts war alleinstehend.«
    »Vielleicht einen entfernten Verwandten, der …«
    »Er war allein. Seine Familie war während des Kriegs ermordet worden. Sie waren Juden. Er hatte als Einziger überlebt.«
    »Keine Angehörigen?«
    »Er hat immer wieder seine schreckliche Geschichte erzählt, der Arme. Ich glaube, am Ende ist er verrückt geworden. Er hat sie wieder und wieder erzählt, zerfressen von …«
    »Schuldgefühlen.«
    »Ja. Immer hat er sie erzählt. Allen. Zuletzt war die Geschichte sein Lebenszweck. Er hat nur noch gelebt, um zu erzählen, dass er zwei Töchter hatte, die …«
    »Drei.«
    »Drei? Also drei Töchter, die hießen so, so und so …«
    »Amelietje mit dem jettschwarzen Haar. Die brünette Truu und die kleine Juliet, golden wie die Sonne.«
    »Kannten Sie ihn?« Die Empfangsdame riss erstaunt die Augen auf.
    »Gewissermaßen. Gibt es viele Leute, die diese Geschichte kennen?«
    »Viele der Heimbewohner. Die, die noch am Leben sind, natürlich. Schließlich liegt das Ganze schon ein paar Jahre zurück.«
    »Natürlich.«
    »Bob hat ihn immer sehr gut imitieren können.«
    »Wer ist das?«
    »Der Zimmergenosse von Alpaerts.«
    »Lebt er noch?«
    »Und wie! Der hält uns alle auf Trab.« Sie senkte die Stimme, ganz hingerissen von diesem hochgewachsenen zweiten Geiger des Antigone-Quartetts. »Er veranstaltet heimliche Dominopartien unter den Heimbewohnern.«
    »Könnte ich ihn …«
    »Ja. Ich verstoße zwar gegen sämtliche Vorschriften …«
    »Im Namen der Musik.«
    »Genau! Im Namen der Musik.«
    Im Wartezimmer lagen fünf Zeitschriften in Niederländisch und eine in Französisch. An der Wand hing eine billige Vermeer-Reproduktion, das Bild einer Frau am Fenster, die Bernat überrascht ansah, als beabsichtigte er, zu ihr ins Zimmer zu gehen.
    Nach fünf Minuten trat der Mann ein. Schlank, mit tränenfeuchtem Blick und üppiger weißer Mähne. Offenbar erkannte er Bernat nicht wieder.
    »Englisch oder Französisch?«, lächelte Bernat.
    »Englisch.«
    »Guten Tag.«
    Vor Bernat stand der Mann, der an jenem Nachmittag Adrià überredet hatte. Ich hab’s dir ja gesagt, Adrià, dachte er. Die hatten dich durchschaut. Anstatt seinem Gegenüber direkt an die Gurgel zu gehen, lächelte er wieder und fragte, haben Sie jemals von einer Storioni-Geige namens Vial gehört?
    Der Mann, der sich gerade hatte setzen wollen, strebte in Richtung Tür, doch Bernat verstellte ihm mit seiner ganzen Länge den Weg.
    »Sie haben seine Geige gestohlen.«
    »Darf ich wissen, wer Sie sind?«
    »Polizei.«
    Er zückte seinen Mitgliedsausweis des Nationalen Symphonieorchesters Barcelona und fügte hinzu: »Interpol.«
    »Mein Gott«, hauchte der Mann und sank auf einen Stuhl. Dann sagte er, ich habe das nicht wegen des Geldes gemacht.
    »Wie viel haben sie Ihnen bezahlt?«
    »Fünfzigtausend Francs.«
    »Donnerwetter.«
    »Ich habe es nicht wegen des Geldes gemacht. Und es waren belgische Francs.«
    »Warum haben Sie es dann getan?«
    »Fünf Jahre lang, solange wir das Zimmer teilten, ist mir Matthias Alpaerts mit seiner Geschichte von seinen verdammten Töchtern und seiner kränklichen Schwiegermutter auf die Nerven gegangen. Jeden Tag hat er mir von ihnen erzählt und dabei aus dem Fenster gestarrt. Er hat mich nicht mal angesehen dabei. Jeden Tag. Und dann ist er krank geworden. Und da sind diese Männer zu mir gekommen.«
    »Wer waren sie?«
    »Das weiß ich nicht. Sie kamen aus Barcelona. Ein dünner und ein junger. Und sie haben zu mir gesagt, uns ist zu Ohren gekommen, dass du ihn sehr gut imitierst.«
    »Ich bin Schauspieler. Auch wenn ich im Ruhestand bin, bin ich immer noch Schauspieler. Außerdem spiele ich Akkordeon und Saxophon. Und ein bisschen Klavier.«
    »Zeig uns mal, wie gut du ihn imitieren kannst.«
    Sie führten ihn aus, in ein Restaurant, bestellten ihm zu essen und Weiß- und Rotwein. Und er sah sie verwundert an und fragte, warum redet ihr nicht

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