Das Schweigen des Sammlers
das Haus, um sich mit einem portugiesischen Kollegen zu treffen, der auf der Durchreise war.
»Wo?«
Ardèvol sagte zu Adrià, wenn er wiederkomme, wolle er ein aufgeräumtes Zimmer sehen, denn morgen seien die Ferien zu Ende; dann sah er seine Frau an.
»Was hast du gesagt?«, fragte er streng wie ein Lehrer und setzte den Hut auf. Sie schluckte wie eine Schülerin, aber sie fragte noch einmal: »Wo triffst du dich mit Pinheiro?«
Lola Xica kam ins Esszimmer, witterte die dicke Luft und verschwand sofort wieder in der Küche. Fèlix Ardèvol ließ drei oder vier Sekunden verstreichen, die seine Frau als demütigend empfand und Adrià Zeit gaben, den Blick zwischen seinen Eltern hin und her wandern zu lassen und zu begreifen, dass etwas faul war.
»Warum willst du das wissen?«
»Schon gut, schon gut …, ich habe nichts gesagt.«
Die Mutter wandte sich ab und ging aus der Diele zurück in die Wohnung, ohne den Kuss, den sie ihm sonst mit auf den Weg gab. Schon in den hinteren Räumen, wo Senyora Angeleta ihr Reich hatte, hörte sie ihn sagen, wir treffen uns im Ateneu, und dann, wobei er jedes Wort betonte: Wenn du nichts dagegen hast. Und zur Strafe für ihre unübliche Neugierde in vorwurfsvollem Ton: »Und ich weiß nicht, um wie viel Uhr ich zurück sein werde.«
Er ging noch kurz ins Arbeitszimmer und kam gleich wieder heraus. Wir hörten, wie er die Wohnungstür öffnete und sie – vielleicht lauter als sonst – von außen zuschlug. Und danach die Stille. Und Adrià war entsetzt, denn der Vater …, o mein Gott, der Vater hatte seine Geige mitgenommen. Den Kasten der Storioni mit der Übungsgeige darin. Sofort in höchster Alarmbereitschaft, lauerte Adrià auf den geeigneten Moment, um sich wie ein Dieb in der Nacht, wie der Tag des Herrn, ins Arbeitszimmer zu schleichen, betete zu Gott, der nicht existiert, dass seine Mutter nicht ausgerechnet jetzt hereinkäme, murmelte, sechs eins fünf vier zwei acht und öffnete den Stahlschrank: Meine Geige war weg, und ich wäre am liebsten gestorben. Dann rückte ich alles wieder an seinen Platz und schloss mich in meinem Zimmer ein, um auf die Rückkehr meines Vaters zu warten, der außer sich sein und fragen würde, wer hat versucht, mich hinters Licht zu führen? Wer hat Zugang zum Tresor, wer? Lola Xica?
»Aber ich …«
»Carme?«
»Um Himmels willen, Fèlix.«
Und dann würde er mich ansehen und sagen, Adrià? Und ich würde so schlecht lügen wie immer, und Vater würde alles erraten. Und obwohl er nur zwei Schritte von mir entfernt stünde, würde er schreien, als redete er aus dem Carrer del Bruc mit mir, und sagen, komm her, und wenn ich mich nicht von der Stelle rührte, würde er noch lauter brüllen, du sollst herkommen, habe ich gesagt! Und der arme Adrià würde mit gesenktem Kopf zu ihm hintrotten und den Unschuldigen mimen, und das Ganze wäre absolut und ganz und gar unerträglich. Doch stattdessen klingelte das Telefon, und meine Mutter kam herein und sagte, dein Vater …, hör zu, mein Sohn …, dein Vater … Und er fragte: Was. Was ist mit ihm? Und sie antwortete, er ist im Himmel. Und ihm fiel nichts besseres ein als, aber es gibt doch gar keinen Himmel.
»Dein Vater ist tot.«
Im ersten Moment fühlte ich mich erleichtert, denn wenn er tot war, konnte er mich nicht mehr zusammenstauchen. Dann fiel mir ein, dass es Sünde war, so zu denken. Und auch wenn es den Himmel gar nicht gab, fühlte ich mich wie ein elender Sünder, weil ich genau wusste, dass mein Vater durch meine Schuld gestorben war.
Senyora Carme Bosch d’Ardèvol musste, schmerzerfüllt und erschüttert, Fèlix’ kopflose Leiche offiziell identifizieren: ein Fleck am … ja, dieser Fleck. Ja, die beiden Muttermale. Ein erkalteter Körper, der niemanden mehr schelten konnte, aber Fèlix, ja, ohne jeden Zweifel, mein Mann, Fèlix Ardèvol i Guiteres, ja.
»Wer, sagen Sie?«
»Pinheiro. Aus Coimbra. Ein Professor aus Coimbra, ja. Horacio Pinheiro.«
»Kennen Sie ihn, Senyora?«
»Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Wenn er in Barcelona ist, steigt er normalerweise im Hotel Colón ab.«
Kommissar Plasencia gab dem Mann mit dem schmalenSchnurrbart ein Zeichen, und dieser ging stumm hinaus. Dann blickte er die frisch Verwitwete an, die noch keine Trauer trug, weil sie erst vor einer halben Stunde bei ihr geklingelt und gesagt hatten, es wäre besser, Sie kämen mit uns, und sie hatte gefragt, aber was ist denn los, und die beiden Männer hatten entgegnet, tut uns
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