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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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gesehen.«
    »Ich auch nicht.«
    Sofort biss sie sich auf die Lippen. Sie räumte das Kästchen mit der Goldfeder, von deren Existenz sie nicht gewusst hatte, wieder weg und öffnete das nächste, das kleiner und grün war. Mit bebenden Fingern hob sie die rosafarbene Watte an.
    Mit den Jahren habe ich verstanden, dass meine Mutter kein leichtes Leben hatte. Dass es keine gute Idee gewesen sein dürfte, meinen Vater zu heiraten, auch wenn er mit solcher Eleganz den Hut zog und sagte, wie geht es dir, meine Schöne. Dass sie gewiss glücklicher geworden wäre mit einem Mann, der ab und zu unrecht gehabt oder sich getäuscht oder einfach manchmal grundlos losgelacht hätte. Zu Hause waren wir alle gezeichnet von Vaters unbestechlichem Ernst und seiner leicht bitteren Lebenseinstellung. Und obwohl ich unablässig beobachtete und ein ziemlich schlaues Bürschchen war, muss ich zugeben, dass ich die Glocken zwar läutenhörte, aber nicht wusste, wo sie hingen. Und so setzte ich den Schlussakkord hinter diesen Abend, der mir sensationell erschien, weil ich glaubte, meine Mutter zurückgewonnen zu haben, und fragte, darf ich auf Vial üben, Mutter? Meine Mutter erstarrte. Sie sah einen Moment zur Wand, und ich dachte, da haben wir es, jetzt wird sie mich nie wieder ansehen. Doch dann lächelte sie scheu und sagte, ich werde es mir überlegen. Ich glaube, in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass nun alles anders werden würde. Und natürlich wurde alles anders, aber nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Andererseits: Wäre es nicht so gekommen, hätte ich dich natürlich nie kennengelernt.
    Ist dir schon mal aufgefallen, dass das Leben ein unergründlicher Zufall ist? Von den Millionen Spermien des Vaters kann nur ein einziges die Eizelle befruchten. Dass du geboren wurdest, dass ich geboren wurde, sind ungeheure Zufälle. Wir hätten als Millionen andere zur Welt kommen können, die weder du noch ich gewesen wären. Dass wir beide Brahms mögen, ist auch Zufall. Dass es in deiner Familie so viele Tote und so wenige Überlebende gegeben hat. Alles Zufall. Wenn unsere Gene oder später unser Leben an einer der Millionen Abzweigungen einen anderen Weg eingeschlagen hätten, dann hätte das hier nie geschrieben werden können, und wer weiß, wem es einmal in die Hände fällt. So ein Wahnsinn.
    Von diesem Abend an wurde alles anders. Mutter verbrachte viele Stunden im Arbeitszimmer, wie Vater, nur ohne Lupe, und las sämtliche Dokumente aus dem Tresor, schließlich war sechs eins fünf vier zwei acht mittlerweile allgemein bekannt. Sie schätzte Vaters Stil so gering, dass sie sich nicht einmal herabließ, die Kombination zu ändern, wofür ich ihr dankbar war, ohne recht zu wissen, warum. Stunde um Stunde ging sie die Papiere durch oder sprach mit fremden Männern, die ihre Brillen auf- oder absetzten, je nachdem, ob sie lasen oder meine Mutter ansahen, und alle redeten und redeten mit gedämpfter Stimme, alle sehr ernst, und weder ich noch Carson, noch der schweigsame Schwarze Adler konnten vieldavon erhaschen. Nach ein paar Wochen voller Geraune, leise erteilter Ratschläge und Empfehlungen, hochgezogener Augenbrauen und knapper, entschiedener Kommentare räumte meine Mutter sämtliche Dokumente zurück in den Stahlschrank, sechs eins fünf vier zwei acht, und steckte einige Papiere in eine dunkle Mappe. Und genau in diesem Moment änderte sie die Kombination des Tresors. Dann zog sie ihren schwarzen Mantel über das schwarze Kleid, holte tief Luft, nahm die dunkle Mappe und erschien unangekündigt im Laden, wo Cecília sie mit guten Tag, Senyora Ardèvol, begrüßte. Sie ging schnurstracks zu Senyor Ardèvols Büro, marschierte ohne anzuklopfen hinein und unterbrach das Telefongespräch, das der verdutzte Senyor Berenguer gerade führte, indem sie die Hand sanft auf die Gabel sinken ließ.
    »Was, zum Geier …«
    Senyora Ardèvol lächelte und setzte sich Senyor Berenguer gegenüber, der mit ärgerlichem Gesicht in Fèlix’ grauem Sessel saß. Sie legte die dunkle Mappe auf den Tisch.
    »Guten Morgen, Senyor Berenguer.«
    »Ich habe mit Frankfurt telefoniert.« Wütend schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es war sehr schwer durchzukommen, verdammt noch mal!«
    »Genau das wollte ich verhindern. Wir müssen uns unterhalten.«
    Und sie unterhielten sich über alles. Tatsächlich wusste meine Mutter viel mehr, als sie eigentlich wissen sollte. Ungefähr die Hälfte der Waren im Laden gehört

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