Das Schweigen des Sammlers
Lola Xica zahlte, wir verließen die Musikalienhandlung Beethoven, und sie beugte sich herunter, gab mir einen Kuss auf die Wange und schaute sehnsüchtig die Rambla hinauf, aber sie hielt sich nicht die Hand vor den Mund, weil sie nicht wie blöd lachte. Da schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich womöglich bald auch keine Mutter mehr haben würde.
Zwei Wochen nach der Beerdigung kamen erneut spanisch sprechende Herren, und Mutter wurde zum zweiten Mal totenblass, und Mutter und Lola Xica begannen wieder mit ihrem Gewisper. Ich fühlte mich ausgestoßen, und so nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte meine Mutter, Mutter, was geht hier vor? Zum ersten Mal seit langem sah sie mich wirklich an. Sie sagte, es ist ganz furchtbar, mein Sohn, ganz furchtbar. Du solltest lieber … und da kam Lola Xica und brachte mich zur Schule. Mir fiel auf, dass einige Kinder mir schräge Seitenblicke zuwarfen, schrägere als üblich. Und in der Hofpause kam Riera zu mir und fragte, haben sie ihn mitbegraben? Und ich fragte, wie bitte? Und er, ob sie ihn mitbegraben haben? Und ich, wen mitbegraben? Und Riera lächelte überheblich und sagte, gruselig, nicht wahr, so ein Kopf ohne alles? Und beharrte weiter auf seinem Ihr habt ihn aber mitbegraben, oder? Und ich verstand kein Wort und verzog mich sicherheitshalber in die sonnige Ecke, wo Sammelbildchen getauscht wurden, und ging Riera fortan aus dem Weg.
Ich hatte immer Schwierigkeiten damit, ein Kind wie jedes andere zu sein. Ich war eben kein Kind wie jedes andere. Mein größtes – und laut Pujol unlösbares – Problem bestand darin, dass mir das Lernen Spaß machte. Ich hatte Freude an Geschichte und Latein und Französisch, und ich ging gern ins Konservatorium, um bei der Trullols Grifftechnik zu üben, und wenn ich mir beim Tonleiternspielen vorstellte, auf einer Bühne vor einem vollbesetzten Saal zu stehen, klangen meine Tonleitern gleich ein wenig besser. Denn das Geheimnis liegt im Klang. Die Hände sind halb so wild, wenn man lange genug übt, bewegen sie sich von ganz allein. Manchmal improvisierte ich sogar. Ich tat das alles gern, und ich schmökerte auch gern in der Espasa-Enzyklopädie. Und wenn uns Senyor Badia in der Schule eine Frage stellte, deutete Pujol auf mich und sagte, der Zuständige für die Beantwortung von Fragen sei ich. Und dann schämte ich mich, die Frage zu beantworten, weil sie mich vorführten wie einen Tanzbären, genau wie mein Vater. Esteban, der in der Bank hinter mir saß und ein gemeiner Kerl war, nannte mich jedes Mal, wenn ich eine Frage richtig beantwortete, Mädchen, bis ich eines Tages zu Senyor Badia sagte, nein, die Quadratwurzel aus hundertvierundvierzig hätte ich vergessen, und dann musste ich auf die Toilette rennen und mich übergeben, und während ich mich übergab, kam Esteban herein, entdeckte mich und sagte, dasiehst du, was für ein Mädchen du bist. Doch nach Vaters Tod bemerkte ich, dass meine Klassenkameraden mich anders ansahen, ich weiß auch nicht, wie, so als sei ich in ihren Augen aufgestiegen. Trotzdem beneidete ich, glaube ich, alle Kinder, die keine Lust zum Lernen hatten und gelegentlich durch eine Prüfung fielen. Im Konservatorium war es anders, denn dort hatte man die Geige in der Hand und bemühte sich um einen guten Klang, nein, nein, so nicht, du krächzt ja wie eine heisere Ente, hör noch mal zu. Und die Trullols ergriff meine Geige und entlockte ihr so wunderschöne Töne, dass ich mich, obwohl sie ziemlich alt und viel zu dürr war, fast in sie verliebt hätte. Es war ein Klang, der sich anfühlte wie Samt und nach Blumen duftete, ich weiß nicht, nach welchen, aber ich erinnere mich daran, wie er roch.
»So wird das bei mir niemals klingen. Obwohl ich schon das Vibrato hinbekomme.«
»Alles zu seiner Zeit.«
»Ja, aber ich werde niemals …«
»Sag niemals nie, Ardèvol.«
Musikalisch und intellektuell vielleicht nicht besonders gut ausgedrückt, aber dennoch ein Ratschlag, der mich stärker geprägt als alle, die mir das Leben später in Barcelona und Deutschland erteilt hat. Nach einem Monat war mein Klang deutlich besser geworden. Noch besaß er keinen Duft, doch dem Samt kam er schon näher. Aber wenn ich mich recht entsinne, bin ich nicht sofort wieder zur Schule und ins Konservatorium gegangen. Vorher verbrachte ich ein paar Tage bei meinen Vettern in Tona. Und nach meiner Rückkehr versuchte ich zu begreifen, was genau geschehen war.
Am siebten Januar verließ Fèlix Ardèvol
Weitere Kostenlose Bücher