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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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vorhatte. Ich weiß nicht, warum er an der Straße nach Arrabassada gefunden worden war, wenn er doch zum Ateneu wollte. Ich weiß nur, dass ich ihn in den Tod getrieben habe, und heute, fünfzig Jahre später, denke ich das noch immer.

11
    Und eines Tages tauchte meine Mutter aus der Versenkung auf, und ihre Augen nahmen die Dinge wieder wahr. Das merkte ich daran, dass sie mich sekundenlang anblickte, als sie, Lola Xica und ich beim Essen saßen, und ich hatte den Eindruck, sie wolle etwas sagen, und begann zu zittern, weil ich sicher war, dass sie gleich sagen würde, ich weiß alles, ich weiß, dass du schuld bist am Tod deines Vaters, und ich werde dich bei der Polizei anzeigen, du Mörder, und ich, aber Mutter, ich …, ich wollte das nicht …, ich …, und Lola Xica würde zu schlichten versuchen, denn sie war zuständig fürs Schlichten in dieser Familie, in der kaum gesprochen wurde, und sie tat es mit wenigen Worten und zurückhaltender Gestik, Lola Xica, du hättest mein Leben lang an meiner Seite bleiben müssen.
    Mutter blickte mich weiter an, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich glaube, seit Vaters Tod hasste sie mich. Schon vor seinem Tod hatte sie keine übermäßige Zuneigung zu mir gehegt. Seltsam: Warum gingen wir in meiner Familie so kalt miteinander um? Heute führe ich es auf das Leben zurück, das mein Vater uns aufzwang. Bei diesem Abendessen, es muss April oder Mai gewesen sein, sah Mutter mich wortlos an. Ich wusste nicht, was schlimmer war, eine Mutter, die dich gar nicht ansieht, oder eine Mutter, die dich anklagend ansieht. Und dann schleuderte sie mir ihre schreckliche Beschuldigung ins Gesicht: »Wie läuft der Geigenunterricht?«
    Ich wusste wirklich nicht, was ich antworten sollte, aber ich erinnere mich, dass ich innerlich schwitzte.
    »Gut. Wie immer.«
    »Das freut mich.« Jetzt durchbohrte sie mich mit den Augen. »Bist du mit Senyoreta Trullols zufrieden?«
    »Ja, sehr.«
    »Und mit der neuen Geige?«
    »Na ja …«
    »Was heißt na ja? Bist du damit zufrieden oder nicht?«
    »Tja.«
    »Tja oder ja?«
    »Ja.«
    Schweigen. Ich senkte den Blick, und Lola Xica nutzte die Gelegenheit, die leere Bohnenschüssel abzuräumen und so zu tun, als hätte sie jede Menge Arbeit in der Küche, das feige Stück.
    »Adrià.«
    Ich sah sie flehend an. Sie schaute mich an, wie sie es lange nicht getan hatte, und fragte, geht es dir gut?
    »Ja, schon.«
    »Bist du traurig?«
    »Ja, schon.«
    Als Nächstes würde sie mit dem Finger auf meine schwarze Seele zeigen.
    »Ich habe mich nicht viel um dich gekümmert in letzter Zeit.«
    »Das macht nichts.«
    »Doch, das macht etwas.«
    Lola Xica brachte eine Platte mit gebratenen Makrelen herein, das Gericht, das ich am allermeisten hasste, und als meine Mutter sah, was es gab, lächelte sie schmal und sagte, mmmh, Makrelen.
    Und damit endeten Unterhaltung und Anklage. An diesem Abend aß ich so viel Makrele, wie sie mir auf den Teller legten, und trank mein Glas Milch hinterher, und als ich zu Bett gehen wollte, hörte ich meine Mutter in Vaters Arbeitszimmer kramen, zum ersten Mal seit Vaters Tod, wie mir schien. Ich konnte nicht umhin, ihr nachzuschnüffeln; jeder Vorwand war mir recht, wenn ich nur einen Blick dort hinein werfen konnte. Vorsichtshalber nahm ich Carson mit. Meine Mutter kauerte vor dem Tresor und durchsuchte ihn. Jetzt wusste sie ja die Kombination. Vial lehnte außerhalb des Tresors an der Wand, und sie zog Papiere heraus, blätterte sie gleichgültig durch und stapelte sie ordentlich auf den Boden.
    »Was suchst du?«
    »Papiere. Vom Laden. Von Tona.«
    »Wenn du willst, kann ich dir helfen.«
    »Nein, weil ich gar nicht weiß, wonach ich suche.«
    Ich war überglücklich, dass meine Mutter und ich ein Gespräch geführt hatten; kurz, aber immerhin ein Gespräch. Und mir ging ein hässlicher Gedanke durch den Kopf: Ich dachte, wie gut es doch war, dass mein Vater nicht mehr lebte, weil Mutter und ich jetzt miteinander reden konnten. Aber ich wollte so etwas nicht denken, es war mir unwillkürlich in den Sinn gekommen. Tatsache war, dass die Augen meiner Mutter von diesem Tag an wieder glänzten.
    Und dann holte sie drei oder vier Schachteln heraus und stellte sie auf den Tisch. Ich näherte mich. Sie öffnete eine davon: Darin lag ein goldener Federhalter mit Goldfeder.
    »Toll«, sagte ich bewundernd.
    Mutter klappte die Schachtel zu.
    »Ist das Gold?«
    »Ich weiß es nicht. Ich nehme es an.«
    »Die habe ich noch nie

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