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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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hier mit den Perlen überhand. Und ich verstand, langsam nimmt es hier mit dem Sterben überhand.

10
    »Dein Vater …, hör zu, mein Sohn …, dein Vater …«
    »Was? Was ist denn mit ihm?«
    »Er … ist im Himmel.«
    »Aber es gibt doch gar keinen Himmel!«
    »Dein Vater ist tot.«
    Ich erschrak mehr über Mutters kreidebleiches Gesicht als über die Nachricht. Fast schien es, als wäre sie die Tote. Und ihre verängstigten Augen. Noch nie hatte ich erlebt, dass meiner Mutter die Stimme versagte. Sie sah mich nicht an, sondern starrte auf den Fleck an der Wand über dem Bett und sagte, ich habe ihm keinen Kuss gegeben, als er fortging. Vielleicht hätte ihn ein Kuss gerettet. Und mir kam es so vor, als fügte sie noch flüsternd hinzu, wenn er das überhaupt verdient hätte. Aber das bildete ich mir wohl nur ein.
    Weil ich sie nicht verstand, schloss ich mich in meinem unaufgeräumten Zimmer ein, setzte mich aufs Bett, hielt den Rot-Kreuz-Wagen, den mir die Heiligen Drei Könige gebracht hatten, fest im Arm und weinte so leise, wie bei uns immer alles vonstattenging, weil mein Vater, wenn er nicht gerade Manuskripte studierte, entweder las oder starb.
    Ich fragte Mutter nicht nach Einzelheiten. Auch durfte ich den Toten nicht mehr sehen, denn sie sagten, es sei ein Unfall gewesen, ein Lastwagen habe ihn überfahren, auf der Landstraße nach Arrabassada, die nicht auf dem Weg zum Ateneu liegt, und nein, du kannst ihn auf gar keinen Fall sehen. Und ich war unruhig, weil ich dringend Bernat treffen musste, ehe die Welt über mir zusammenstürzte und man mich ins Gefängnis steckte.
    »Junge, warum hatte er deine Geige dabei?«
    »Was?«
    »Warum er deine Geige bei sich hatte?« wiederholte Lola Xica.
    Jetzt würde alles herauskommen, und ich würde vor Angst sterben. Trotzdem brachte ich noch die Kraft zum Lügen auf: »Er wollte sie haben, ich weiß nicht wofür. Das hat er mir nicht gesagt.« Und mit dem Mut der Verzweiflung: »Er benahm sich sehr eigenartig.«
    Wenn ich schwindele, was ich oft tue, glaube ich immer, jeder müsse es mir ansehen. Das Blut steigt mir ins Gesicht, ich spüre, wie ich rot werde, schaue mich suchend nach einem unbedachten Widerspruch um, der sich in meine Lügengeschichte eingeschlichen haben könnte, fühle mich den anderen ausgeliefert und wundere mich jedes Mal, wenn die nichts davon merken. Meine Mutter bekam es tatsächlich nicht mit, Lola Xica dagegen sehr wohl, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber sie tat, als wäre nichts. Lügen sind etwas Rätselhaftes. Noch heute als alter Mann werde ich rot, wenn ich lüge, und habe wieder Senyora Angeletas Stimme im Ohr, die einmal, als ich behauptete, ich hätte das Stück Schokolade nicht gestohlen, meine Hand packte, mich zwang, sie auszustrecken, und meiner Mutter und Lola Xica die verräterischen Schokoladenflecken zeigte. Dann klappte sie meine Hand zu wie ein Buch und sagte, Lügen haben kurze Beine, denk dran, Adrià. Und mit über sechzig denke ich noch immer daran. Meine Erinnerungen sind in Marmor gemeißelt, Senyora Angeleta. Diesmal jedoch war das Problem kein entwendeter Schokoladenriegel. Ich machte ein bekümmertes Gesicht, was mir nicht schwerfiel, weil ich großen Kummer und große Angst hatte, und sagte, ich weiß von nichts, und begann zu weinen, weil mein Vater gestorben war und …
    Lola Xica verließ das Zimmer, und ich hörte sie mit jemandem reden. Dann kam ein unbekannter Mann herein, der stark nach Tabak roch, spanisch sprach, seinen Mantel nicht abgelegt hatte und den Hut in der Hand hielt, und fragte, wie heißt du.
    »Adrià.«
    »Warum hat dein Vater deine Geige mitgenommen?« Die Frage kam lustlos.
    »Ich weiß es nicht. Ich schwör’s.«
    Der Mann zeigte mir Bruchstücke vom Holz meiner Übungsgeige.
    »Erkennst du das wieder?«
    »Ja, schon. Das ist … das war meine Geige.«
    »Hatte er dich darum gebeten?«
    »Ja«, log ich.
    »Ohne weitere Erklärung?«
    »Nein. Ja.«
    »Spielt er Geige?«
    »Wer?«
    »Dein Vater.«
    »Ach was.«
    Und ich musste mir ein spöttisches Grinsen verkneifen, denn der bloße Gedanken an meinen geigenden Vater belustigte mich. Der Mann mit dem Mantel, dem Hut und dem Tabakgestank sah meine Mutter und Lola Xica an, und beide nickten stumm. Mit dem Hut wies der Mann auf den Rot-Kreuz-Wagen in meiner Hand und sagte, da hast du aber einen tollen Krankenwagen. Dann ging er hinaus. Ich war allein mit meinen Lügen und verstand nichts. Aus dem Inneren des Krankenwagens strafte mich

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