Das Schweigen meiner Mutter
Schabbatessen?«, hatte ich meine Mutter jeden Freitag gefragt.
»Wenn du unbedingt willst, vielleicht am Montagabend.« Sie lachte wie über einen guten Witz.
»Dann gehe ich eben zu Dorit«, verkündete ich wütend.
Bei Dorit war der Tisch gedeckt, die Schabbatkerzen brannten und auf dem Herd standen dampfende Töpfe und dufteten festlich.
Schmulik sprach den Segen über den Wein, nahm einen Schluck und brach Stücke von der Challa.
Alle aßen genüsslich das Schabbatbrot, das er verteilte, nur Fejge drückte ihr Stück an die Brust und seufzte. »Oj, was für eine
challe
, was für eine
challe
«, sagte sie laut. »Nie werde ich die Zeit damals im Lager vergessen, den schrecklichen Hunger, und ich war dem Tod nahe …«
»Kannst du nicht endlich mal den Mund halten?«, unterbrach Itta sie wütend. Ein Stückchen Schabbatbrot blieb ihr im Hals stecken, sie wurde rot und bekam einen Hustenkrampf.
Itzik sprang auf, schlug ihr auf den Rücken, schob sie zum Spülbecken. »Mama, spuck die Challa aus«, flehte er.
Schmulik zitterte. »
Oj, gottenju
, sie stirbt, ach, Gott, sie stirbt«, verkündete er Gott und uns.
»Hör mir gut zu!« Fejge versetzte ihm einen Klaps. »Ich werde vor ihr sterben, Wladek wird vor ihr sterben und auch du wirst vor ihr sterben. Ich kenne meine Schwester, eine wie sie nimmt Gott nicht so schnell zu sich, und nur er und ich wissen, warum.«
Zwischen einem Hustenanfall und dem nächsten spuckte Itta Challastückchen aus, ins Spülbecken und auch rundherum auf die Küchenanrichte.
»
A harzlose
bist du«, murmelte sie, als sie wieder Luft bekam.
»Nun, ich hab’s dir doch gesagt, sie ist am Leben geblieben«, verkündete Fejge zufrieden, »sie wird leben bis hundertzwanzig.«
»A gute neschome
6
«
, röchelte Itta und nahm einen Schluck aus dem Glas Wasser, das Itzik ihr hinhielt.
»Frau
hefkerdiker
7 macht mir Komplimente.« Fejge schaute uns an, in der Hoffnung, wir würden uns mit ihr gegen ihre Schwester verbünden.
»Sie wird mich noch umbringen«, klagte Itta.
»Also wirklich, du wirst es doch nicht zulassen, dass es uns vergönnt ist, deinen Tod zu beklagen«, antwortete Fejge lachend.
»Gott wird es dir vergelten«, versprach Itta.
Schmulik, Wladek und Itzik aßen
gefilte fisch
, Huhn und Püree, sie schauten nicht von ihren Tellern auf.
Dorit hortete das Essen in ihrem Mund, sie schaffte es noch nicht einmal zu kauen. Ihr Mund voller
gefilte fisch
näherte sich meinem Ohr, sie schlug mir vor, von dem Eisbein zu kosten, das ich nicht ausstehen konnte, und noch ein bisschen Püree zu nehmen. Als Nachtisch versprach sie mir die Doboschtorte ihrer Mutter. Aber ich kam nie dazu, Ittas Doboschtorte zu probieren. Denn jeden Freitagabend, bei jedem Schabbatessen war Doboschtorte das Stichwort für den zweiten Akt.
»Doboschtorte, dass ich nicht lache«, stellte Fejge fest. »Komm«, flüsterte sie Dorit zu, »ich habe dir heute
rogelach
mit Schokolade gebacken.« Sie stand auf, nahm ihre kleine Lacktasche und die Vase mit den Blumen, die sie mitgebracht hatte, und beendete mit diesen Worten die Feier.
Itta legte den Arm um Dorit und forderte sie wortlos auf,sitzen zu bleiben. Wladek, unschlüssig, ob er aufstehen oder sitzen bleiben sollte, flehte Fejge an, doch hierzubleiben, sie solle nicht alles verderben und verwünschen und dem Mädchen den Abend nicht vermasseln.
Aber Fejge schenkte ihm überhaupt keine Beachtung. »Komm«, sagte sie noch einmal zu Dorit, und der Streit ging weiter, mit dem Essen im Mund, dem Zorn in den Augen und dem Jiddisch auf den Lippen.
Ich sah, dass Dorit bald explodieren würde. Ich wusste, sie wartete darauf, dass Chajale dort in ihrem Bordell endlich anfangen würde, Klavier zu spielen. Und dann, als der erste Ton von der Blut-der-Makkabäer-Straße herüberdrang, sprang Dorit mit einem Satz zur Tür, ich hinterher, und gemeinsam flohen wir hinaus auf die Straße, die sich mit den Klängen von Chopins Klavierkonzert Nr. 1 füllte.
Chajale erwartete uns schon in ihrem rosafarbenen Primaballerina-Kostüm. Sie empfing uns freudig, uns zu Ehren ließ sie sogar das Klavierspielen und legte los mit ihrem Schwanentanz.
Jeden Freitagabend derselbe Tanz, und wir schauten ihr zu, bis es Dorit wieder einfiel, dass ihre Mutter ihr eigentlich nicht erlaubte, zu Chajale zu gehen.
»Komm, die Doboschtorte«, befahl sie mir.
»Aber der Tanz ist noch nicht fertig«, fuhr Chajale sie an.
»Dein Tanz ist nie fertig«, sagte Dorit
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